Olaf Kühls Debütroman: Chodorkowskij befreien

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Ein Pole und ein Deutscher fassen einen kühnen Plan: Sie wollen Russlands Polithäftling Nummer 1 aus dem sibirischen Kerker entführen. Olaf Kühls Debütroman über ein erstarrtes Land.

An Russland muss man einfach verzweifeln, dem Land ist nicht zu helfen: Vielleicht ist das die schmerzhafteste Erkenntnis, die die beiden Freunde, der Deutsche Konrad und der Pole Andrzej, irgendwann einmal während ihrer Russlandreise gewinnen. Das Riesenreich fühlt sich wohl in seiner Starre. Auf der Suche nach Freiheit, müssen die zwei einsehen, ist hier niemand mehr. Die Russen klammern sich an den jahrelang eingeimpften Feindbildern fest wie verzweifelte Schiffbrüchige an Rettungsringe: Chinesen, Juden, Kaukasier, Oligarchen – sie alle sollen am Verfall des Landes schuld sein. Eine andere Version der Geschichte will niemand hören.

Eigentlich sind die beiden Helden mit geradezu revolutionären Plänen gen Osten aufgebrochen. Die Freunde wollen Michail Chodorkowskij, den unter Wladimir Putin in Ungnade gefallenen Oligarchen, aus seinem Kerker in der sibirischen Stadt Tschita befreien. Chodorkowskij sitzt dort seit Dezember 2006 ein, abgeschirmt von der Öffentlichkeit; einzig in publizistischen Beiträgen meldet er sich aus dem Gefängnis zu Wort.


Leben, lieben, leiden. Die Reise hat nicht nur die Befreiung Chodorkowskijs zum Ziel, sie soll auch ein innerer Befreiungsschlag sein: Erzähler Konrad, das Alter Ego von Autor Olaf Kühl, macht seine psychische Abstumpfung zu schaffen; sein Freund Andrzej Karymsiuk ist unverkennbar dem polnischen Literaten Andrzej Stasiuk („Unterwegs nach Babadag“) nachempfunden, mit dem Kühl auch privat befreundet und offenbar nicht nur das vertraute Mittelosteuropa, sondern eben auch Russland bereist hat. Wie Stasiuk lebt Karymsiuk in den Beskiden, streicht dort durch die entvölkerten Landschaften. Doch „etwas in diesem Mann... war eingeklemmt“, wie Konrad an einer Stelle bemerkt: die Lesereisen, das allzu wohlmeinende, großbürgerliche Publikum, alles folgt einer „eingespielten Choreografie“. Zeit, um in das große Reich des Liebens und Leidens aufzubrechen.

Doch diese trotzig infantilen Erwartungen zweier nicht mehr ganz junger Männer werden in „Tote Tiere“ gekonnt enttäuscht. Kühl, hauptberuflich Übersetzer aus dem Polnischen und Russischen sowie Russland-Beauftragter von Berlins Bürgermeister Klaus Wowereit, hat einen Abenteuer-, Freundschafts- und Reiseroman geschrieben mit wunderbarer leiser Ironie und feinem Humor über die komplizierte polnisch-deutsch-russische Gemütslage. Und zwischen den Zeilen lässt sich immer wieder das Erstaunen des Autors über seine langjährige Zuneigung zu diesem starrköpfigen Land spüren.

In die Enge getrieben. Doch zurück zur Romanhandlung. In Tschita angelangt, will das Duo mit Hilfe der verwahrlosten Natascha, die als Prostituierte im Gefängnis arbeitet, an den prominenten Häftling herankommen. Doch eines Tages liegt die junge Frau, auf die Andrzej mittlerweile ein Auge geworfen hat, tot in ihrer Hütte, erschossen aus nächster Nähe. Der Verdacht fällt auf ihren Aufpasser Grischa. Die Freunde ahnen allmählich, dass sie sich in Lebensgefahr befinden.

Aus dem Plan, Chodorkowskij über die nahe chinesische Grenze aus Russland hinauszuschaffen, wird nichts. Verfolgt von den besorgten Anrufen eines polnischen Konsuls aus Irkutsk, beschattet von zwielichtigen Geheimdienstlern, in die Enge getrieben von einer brutalen Gefängnismafia, die in den beiden Reisenden ihre Widersacher zu erkennen glaubt, müssen diese selbst die Flucht antreten.

Gelähmt wie das Land. Wie man sich einer fremden Realität nähern soll, wie man reisen soll: Das ist eine weitere Frage, die die beiden tollpatschigen Helden umtreibt. Michail Chodorkowskijs selbst erklärte Retter drohen an einer Realität zu zerbrechen, die sie nur unzureichend durchdringen. Der Deutsche Konrad nähert sich dem Land analytisch-distanziert, für ihn ist Chodorkowskij der unbestreitbare Heilsbringer, der Russland erneuern könnte. Andrzej, in dieser Hinsicht ungleich skeptischer, will Menschen und Landschaften sinnlich erfahren.

Zusehends fallen Andrzej und Konrad in denselben Lähmungszustand, von dem sie Russland eigentlich befreien wollten. Irgendwo auf dem langen Weg zwischen Irkutsk, Ulan-Ude und Tschita ist ihnen der Elan abhanden gekommen. „Damals in Berlin hatte ich mir vorgenommen, mich keine Sekunde von der unbestreitbaren, aber inhaltslosen Weite des Landes beeindrucken zu lassen“, notiert Konrad. „Alles wird mit dieser Weite und der rätselhaften russischen Seele erklärt, die niemand von draußen verstehen kann – faule Ausreden für die eigenen Schwächen.“ Am Ende müssen Andrzej und Konrad – die Verfolger auf den Fersen – vor genau dieser Weite kapitulieren.

Michail Chodorkowskij befreien? In Olaf Kühls Russland darf sich glücklich schätzen, wer mit dem eigenen Leben davonkommt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.11.2011)

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