Charles Dickens will nicht untergehen

Charles Dickens will nicht
Charles Dickens will nicht(c) AP
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Am 7.2.1812 wurde in Landport bei Portsmouth der Schriftsteller Charles John Huffam Dickens geboren. Die fabulösen Romane dieses Engländers sind bis heute Bestseller geblieben.

Am 30. Jänner 1841 ließ Charles Dickens das engelsgleiche Mädchen Nell Trent sterben. Er müsse sie umbringen, hatte sein Freund John Forster geraten, denn der ganze Handlungsverlauf ziele auf eine Tragödie hin. Lange zögerte der Romancier das Ende hinaus, hunderttausende Leser bangten jede Woche, ehe die neue Lieferung von „The Old Curiosity Shop“ (1840/'41) herauskam. Wartende im New Yorker Hafen fragten ankommende englische Passagiere, die bereits die neueste Nummer der Serie kannten, ob das arme Mädchen denn bereits tot sei.

Zu Forster, der später sein Biograf wurde, sagte er vor Fertigstellung der Episode in „The Old Curiosity Shop“, die Little Nell den Tod bringt: „Du kannst dir nicht vorstellen, wie erschöpft ich heute wegen der Arbeit von gestern bin. Die ganze Nacht wurde ich von diesem Kind verfolgt.“ Es sei ein unaussprechlicher Schmerz gewesen.

In der vorletzten Folge war es soweit: Little Nell stirbt diskret im Hintergrund, sie ist bereits zwei Tage tot, als man sie findet. Nell wurde durch ihre Leidensgeschichte zur berühmtesten Figur dieses Werks, des bis dahin erfolgreichsten von Dickens nach der furiosen Eröffnung mit „The Pickwick Papers“ (1836/'37), einem episodischen Werk, das noch ganz dem Pikaro-Roman verhaftet schien und die Grundlage für eine treue Fangemeinde schuf.


Little Nell tot! Ganz England war in Trauer, ein irischer Abgeordneter weinte bitterlich und warf das Buch aus seiner Kutsche. Nur der böse Oscar Wilde spottete später, man müsse ein Herz aus Stein haben, wenn man über diesen Tod nicht lache. Das aber wäre das Letzte, was echte Dickensianer wollen. Viele lieben diesen viktorianischen Schriftsteller nicht nur wegen seiner satirischen Schärfe, sondern auch wegen seines Sentiments. Der Erfolgsautor, dessen 200. Geburtstag demnächst begangen wird, schrieb in einer Zeit, in der es durchaus üblich war, Tränen des Mitleids zu vergießen. Häufig fielen Damen in Ohnmacht, wenn Dickens auf seinen Lesereisen jene Stelle aus „Oliver Twist“ (1837–'39) deklamierte, in der die gutherzige Prostituierte Nancy vom Psychopathen Sikes erschlagen wird.

Der Autor selbst drohte sich im Alter bei der Darbietung genau dieser Passage zu verausgaben. Er starb mit 58 nach einer erschöpfenden „Final Tour“ durch Großbritannien an einem Schlaganfall – in seinem Alterssitz Gad's Hill, der Stätte seiner Kindheit in Kent, wohin er 1860 zurückgekehrt war. Sein Arzt hatte ihm zuvor abgeraten, auf den Lesereisen solch ergreifende Stellen weiterhin vorzutragen. Aber Dickens liebte und lebte das Melodramatische, auch das Märchenhafte, das am schönsten in „A Christmas Carol“ (1843) zum Ausdruck kommt. Genau deshalb war er in seiner Zeit ein Star. Sein Werk war Literatur und Soap Opera zugleich, jedes seiner Bücher wurde zum Gesprächsthema, viele seiner Figuren sind solides britisches Kulturgut.


Ein Rattenloch. Leidende Frauen und Kinder gehören zum Kern seiner Geschichten, die auch die lebenslange Verarbeitung eines Traumas bedeuten. Dickens wurde von seinen Eltern als Zwölfjähriger zur Arbeit in eine Lagerhalle von Warren's Factory an der Themse in London gesteckt, ein Rattenloch, wo er Behälter mit Schuh-wichse etikettieren musste. Sein Vater John Dickens war in dieser Zeit in Haft, im Schuldnergefängnis von Marshalsea. Der Zahlmeister bei der Marine konnte nicht mit Geld umgehen.

Auch als Berühmtheit musste Charles Dickens später des Öfteren seine Eltern auslösen. Er hat sie in Romanen mit erstaunlicher Offenheit verewigt. John Dickens wird in der Ich-Erzählung „David Copperfield“ (1849/'50) als liebenswürdiger, redseliger Mr. Wilkins Micawber karikiert, Elizabeth Dickens in „Nicholas Nickleby“ (1838/'39) als schwatzhafte, zerstreute Mrs. Nickleby, die ihre Kinder zwar liebt, sie jedoch Gefahren aussetzt. Seltsam kühl wirkt Dickens in den Briefen, wenn er von der Mutter spricht. Er habe sie von seinem Vater geerbt, schreibt er in mittleren Jahren, als er erwähnt, dass er nun für sie sorgen muss. Er spricht von ihrem senilen Verfall, der grauenhaften Sinnlosigkeit, die sie umgebe.

Die Kälte hängt wohl mit der entwürdigenden Kinderarbeit zusammen. Als der Vater nach Monaten aus dem Gefängnis kam, wollte er den Sohn wieder in die Schule schicken. Die Mutter aber riet dazu, Charles weiter in der Fabrik zu lassen. Das hat er ihr nie vergessen, wie er 25 Jahre später schrieb. Der Vater setzte sich durch, Charles durfte die Wellington House Academy besuchen, bis er fast 15 war. Warren's Factory wurde in der Familie nie wieder erwähnt. Das verlassene, vom Elend bedrohte Kind blieb Dickens' Leibthema, mit stark autobiografischen Zügen bei „Oliver Twist“, „David Copperfield“ und dem kleinen Pip in seinem wohl besten Roman, „Great Expectations“ (1860/'61). Wer würde jemals die Episode vergessen, in der Pip dem entflohenen Häftling Essen und eine Feile bringt, oder jene, in der David zur furchtbaren Kinderarbeit bei Murdstone and Grinby's gezwungen wird? Oder die Szene, in der der kleine Oliver dem strengen Aufseher des Armenhauses seinen Napf hinhält und sagt: „Sir, ich will noch mehr.“ In skurrilen Steigerungen dringt diese „skandalöse“ Forderung nach mehr bis zum Verwaltungsrat. Und der zeigt ganz ungeniert, wer hier schäbig ist.

Lob von Marx und Shaw. Jawohl, Skandal! Wirkungsvoller als bei Dickens kann Gesellschaftskritik kaum sein. Seine Romane enthielten mehr politische und soziale Wahrheit als alle Politiker, Publizisten und Moralisten zusammen, konstatierte Karl Marx bewundernd. Der Dramatiker G.B. Shaw gestand, dass er erst durch Dickens zum Sozialisten geworden sei. Empörung über Ungerechtigkeit durchzieht dessen Werk. Das Grundmuster: Ein Kind gibt sich nicht zufrieden mit der Misere, es kämpft wie Dickens um den Aufstieg, entwickelt dabei ungeheure Energie. Es ist ein Kampf gegen den Untergang. Tatsächlich ertrinken auffällig viele Schwache in diesen Romanen oder suchen den Tod im Wasser.

Dickens hat sich hochgestrampelt. Nach Teenager-Lehrjahren als Hilfskraft bei Gericht, als Journalist im Parlament und als politischer Reporter wird er bereits als Twen zum literarischen Star. Seine „Sketches by Boz“ (1833–'36) zeigen einen scharfen Beobachter, der mit Lust einmalige Charaktere schaffen kann. Im Frühwerk dominiert das Humoristische und Skurrile, während die späten seiner Romane wie „Bleak House“ (1852/'53) oder „Hard Times“ (1854) voller Sarkasmus sind, voll Wut über die Zustände zur Zeit der Frühindustrialisierung.

Der Elan von Dickens hat auch einiges bewirkt im Kampf gegen Elend und Klassendünkel, zumindest im Bewusstsein, das Veränderungen bedingt. Er beschäftigt die Menschen noch immer, seit 100 Jahren auch in Kino und TV. Aus seinen Werken wurden bisher mindestens 180 Filme gemacht. Was ist sein Geheimnis? Er vermittle allen Lesern, dass er ein guter Freund sei, vermutete eine Biografin. „Sei ganz natürlich“, sagte Dickens über die Kunst. Und alles wird gut.

INFO

1836 Charles Dickens hat mit „Sketches by Boz“ den ersten großen Erfolg. Er ist 24 und heiratet Catherine Hogarth. Sie haben zehn Kinder, 1858 trennt sich das Paar. 1842 Erste Amerikareise. Er ist bereits berühmt, dank seiner Romane „The Pickwick Papers“, „Oliver Twist“, „Nicholas Nickleby“, „The Old Curiosity Shop“ und „Barnaby Rudge“. 1844 Italienreise. Zuvor schreibt er „American Notes“, „A Christmas Carol“, den Roman „Martin Chuzzlewitt“. Weitere Weihnachtserzählungen. 1845/'46 Nach der Rückkehr nach London folgt der Roman „Dombey and Son“. Reisen durch England und Frankreich in den Fünfzigerjahren. Es erscheinen die Romane „David Copperfield“, „Bleak House“, „Hard Times“ und „Little Dorrit“. 1858 Lesungen machen den Autor reich. Sein Spätwerk: „A Tale of Two Cities“, „Great Expectations“, „Our Mutual Friend“ und „The Mystery of Edwin Drood“ (Fragment). Am 9.Juni 1870 stirbt Dickens in Gad's Hill.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.01.2012)

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