„Manche würden sagen, ich bin keine Frau“

Judith Butler
Judith Butler(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Judith Butler in Wien. Ist „männlich“ und „weiblich“ nur ein kulturelles Konstrukt? Die Ikone der Gender-Studies Judith Butler über ihr „gesundes“ Verhältnis zu Freud, unmenschliche Kategorien – und warum wir trotzdem Normen brauchen.

Die Presse: Meine Firmpatin, eine bewundernswerte Frau, hat mir nach der Matura eines Ihrer Bücher geschenkt – das heißt, darf ich überhaupt so naiv „Frau“ sagen?

Judith Butler: Natürlich, Kritik an Geschlechterkategorien soll uns sprachlich nicht lähmen, auch ich verwende das Wort, wir müssen es verwenden, wollen es aus politischen Gründen manchmal auch.

„Das Unbehagen der Geschlechter“ machte Sie Anfang der 1990er berühmt. Sie argumentierten, das weibliche und das männliche Geschlecht seien ein kulturelles Konstrukt, selbst das angeblich „natürliche“ Geschlecht sei Ergebnis von Diskursen. Das heißt, nur ein fragwürdiger Diskurs sorgt dafür, dass ich einen Menschen als biologischen Mann identifiziere und einen anderen als biologische Frau?

Ich sage nicht, dass es keine anatomische Differenz gibt, aber wir sehen sie nie, ohne sie schon zu interpretieren. Wenn ein Baby geboren wird, sagen wir, es ist ein Mädchen, es ist ein Bub – da ist schon ein medizinischer, ein rechtlicher Diskurs, den wir fast rituell wiederholen. So wirken Worte auf uns ein. Wenn eine anatomische Wahrnehmung geprägt ist von unserer Sprache, dann erfolgen Wahrnehmung und Interpretation gleichzeitig. Und in der Biologie ist sehr umstritten, wie man Geschlecht definiert. Wenn zum Beispiel das Olympische Komitee entscheiden muss, ob jemand als Frau antreten darf, konsultiert es Genetiker, Endokrinologen, sogar Psychologen ...

Welchen Anteil Kultur, welchen Natur an Geschlechterkonzepten hat, mag schwer festzulegen sein, der „natürliche“ Anteil kleiner als vielfach angenommen. Aber Sie negieren natürliche Konstanten oder Tendenzen generell ...

Ich negiere, dass es einen Wesenskern gibt. Wenn Sie mich fragen, ob ich zur Kategorie Frau gehöre, sage ich: ja, rechtlich und kulturell – obwohl es Leute gibt, die sagen würden, ich gehöre nicht oder kaum dazu. Wer verhält sich so, dass man sagen könnte, das weibliche Wesen drückt sich hier aus?

Aber ist nicht jede Kategorie eine Abstraktion, mit einem harten Kern und ausfransenden Rändern? Nur weil ihre Grenzen nicht eindeutig sind, müssen wir nicht gleich die Kategorien abschaffen. Durch sie verstehen wir die Welt.

Okay, ich bin nicht für die Abschaffung der Geschlechterkategorien ...

Viele Ihrer Gegner wie Befürworter verstehen Sie so.

Das habe ich nie gesagt. Ich stimme Ihnen zu, dass wir Kategorien brauchen, um die Welt zu organisieren, dass sie nützlich sind, um uns zu orientieren. Das bedeutet aber nicht, dass das, was wir beschreiben, im Wesen wahr ist. Wenn wir jetzt anfangen, zu diskutieren, was das Wesentliche am weiblichen Geschlecht ist, werden wir uns sicher nicht einig. Wenn eine Frau nicht fähig ist, ein Kind zur Welt zu bringen, oder es nicht will, kann sie sagen: Ich bin trotzdem wesentlich noch eine Frau, das hat nichts mit meiner Fähigkeit, mich fortzupflanzen, zu tun. Andere werden dann sagen: Nein, Kinderkriegen ist das Wesentliche, du bist keine oder nur eine unvollständige Frau.

Die Unmöglichkeit, Geschlecht auf ein Wesentliches zu reduzieren, bedeutet noch nicht, dass es keine Verbindungen zwischen sozialem Geschlecht und Biologie gibt.

Meine Agenda ist es auch nicht, die Kategorie, die damit verbundene Norm zu negieren, sie abzuschaffen. Ich will sie nur öffnen. Wie gesagt, wir brauchen Normen! Aber Normen können enger oder weiter gefasst sein. Ich will es den Menschen ermöglichen, ein Geschlecht ohne Zwang zu leben, ohne dass sie dabei jemandes Vorstellung entsprechen müssen, was das Wesentliche daran ist. Und wenn jemand in die Kategorie weiblich oder männlich eintreten oder sie verlassen will, zum Beispiel Transsexuelle, dann sollte es Wege dafür geben.

Eine Gender-Forscherin wurde mit Tests an wenige Monate alten Babys konfrontiert, bei denen die weiblichen im Durchschnitt mehr auf Puppen, die männlichen mehr auf Fahrzeuge reagierten. Das beeinflusse ihre Sicht überhaupt nicht, sagte sie, denn Biologie habe keinen Platz in ihrem Konzept. Was hätten Sie gesagt?

Selbst wenn wir statistische Tendenzen zeigen können: Es wird immer Menschen geben, die nicht in diese Norm hineinpassen, die zur Minderheit gehören. Mir geht es um eine menschliche Frage: Wie kann man Erziehung so organisieren, dass alle Kinder ihre Wünsche als legitim erfahren? Es ist schmerzhaft und schwächend, das Gefühl zu bekommen, das, was andere tun, ist natürlich und richtig, was ich tue, ist unnatürlich, falsch, pathologisch. Ich möchte das Geschlechter-Kontinuum entpathologisieren – das ist mein Anliegen.

Mir scheint, dass Ihre Theorien weniger von der Frage ausgehen, was ist, sondern was sein soll. Ist Ihre ganze Philosophie nur Mittel zu einem ethischen Zweck?

Was mich in der Tat von Anfang an angetrieben hat, ist, wie sehr Menschen gelitten haben durch Normen, die festgesetzt haben, was natürlich ist. Dieses Leiden wollte ich lindern.

Diskussionen Ihrerseits mit Biologen stelle ich mir schwierig vor ...

Ich habe Biologie in der Schule geliebt! Aber mich interessiert daran vor allem der Bereich der Umwelteinflüsse – wie biologische Organismen sich an ihre Umwelt anpassen, wie Biologie sich durch kulturelle Interaktion verändert hat.

Angesichts Ihrer Theorie, dass das System der Zweigeschlechtlichkeit kulturell erzeugt ist, hätte man erwarten können, dass Sie diese These historisch unterfüttern – diese Dimension fehlt aber in Ihrem Werk fast völlig.

Ich bin nur eine einzelne Autorin! Aber ich arbeite etwa intensiv mit der Historikerin Joan Scott zusammen oder der Wissenschaftshistorikerin Anne Fausto-Sterling, ich bin Teil einer großen Gruppe, jeder ist spezialisiert. Möglicherweise konnte Freud alles, er studierte Biologie, die Träume ...

Welches Verhältnis haben Sie zu Freud?

Ein langes – und ein gesundes. (Lacht.) Ich wurde als Teenager, mit vielleicht 15 Jahren, zu einem Psychiater geschickt, weil meine Eltern dachten, ich wäre vielleicht homosexuell. Dieser Mann hat mich einer kurzen Analyse unterzogen und mir dann gesagt: Bei deiner Familie kannst du von Glück reden, dass du überhaupt jemanden lieben kannst! Er hat mich nicht pathologisiert, er wusste, dass menschliche Liebe viele Formen annehmen kann.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.05.2014)

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