Frank Schirrmachers Erbe: Es muss lauter rauschen im Blättchenwald

(c) FABRY Clemens
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Er erfand das deutschsprachige Feuilleton neu, als Zentrum der Zeitung. Für Naturwissenschaft, digitale Revolution und visionär angezettelte Debatten rückten Literaturkritik und Opernpremieren an den Rand.

Frank Schirrmacher tot: Kaum war die Nachricht in der Welt, brachten deutsche Leitmedien ihre Großkaliber in Stellung, um letzte Salutschüsse für den Feuilletonchef der „Frankfurter Allgemeinen“ abzufeuern. Große Trauer, viel Lob für den „wichtigsten Blattmacher der Republik“ („Zeit“ und „taz“ in Wortunion), doch zwischen den Zeilen findet sich noch mehr. Dezent vermerkt die „NZZ“: „Dass er jemals den Preis des gütigsten Vorgesetzten erworben hätte, ist nicht verbürgt.“ Deutlicher die „Frankfurter Rundschau“: „Es war sicher kein Vergnügen“, unter ihm zu dienen. „Die Süddeutsche“ weiß von Redakteuren, die die Flucht ergriffen, weil ihnen Schirrmacher über den Rücken schauend „strenge Ratschläge gab“, wie sie „en détail zu schreiben hätten“. Ihre Namen: Gustav Seibt und Franziska Augstein – die Verfasser des Nachrufs.

Doch ob Bewunderer oder Gegner, persönliche Freunde oder berufliche Opfer: Alle danken Schirrmacher posthum, dass er das Feuilleton für neue Welten und Leser geöffnet und damit womöglich gerettet hat. Nicht nur in seiner „FAZ“, deren Mitherausgeber er schon mit 34 wurde, sondern im gesamten deutschsprachigen Kulturjournalismus, als Echo seines Wirkens.

Sechs Seiten Genom.
Der Kulturteil einer Zeitung: Das war seit den beigelegten „Blättchen“ im jakobinischen Frankreich eine Ansammlung von Theaterkritiken, Buchrezensionen, Berichten über Ausstellungen und Analysen vergangener Epochen. „Die Eule der Minerva beginnt ihren Flug erst in der Dämmerung“, schrieb Hegel über die Philosophie. Aber es galt lange auch für das traditionelle Feuilleton: Ein Thema sollte gut gereift sein, damit es in die höheren Sphären der intellektuellen Reflexion Einklang finden darf. Und es gereiche vielen Kulturjournalisten durchaus zur Ehre, wenn ihre Texte für ein breiteres Publikum unverständlich bleiben.

Mit all dem räumte Schirrmacher mit revolutionärer Geste auf – und seinen Kulturteil notfalls leer: Legendär die Ausgabe vom 27. Juni 2000, als er auf sechs Seiten eine scheinbar wirre Buchstabenfolge abdrucken ließ, das soeben sequenzierte Genom des Menschen. Voller Elan konfrontierte Schirrmacher die schöngeistige Leserschaft, die sich eigentlich nur über die letzte Premiere in Bayreuth informieren wollte, mit Themen, die den bildungsbügerlichen Kanon lustvoll duchbrachen: Pop- und Alltagskultur. Demografie. Patchworkfamilien. Umbrüche in der Naturwissenschaft. Verhaltensökonomie. Und endlich, voller Nachdruck, sein Lebensthema: die Digitalisierung aller Lebensbereiche und die Macht der Datenmonopole.

Warum ließ sich ein Publikum, das im Smalltalk gern mit seiner völligen Ahnungslosigkeit in Sachen Technik oder Jugendkultur kokettiert, diese Schwerpunktsetzung gefallen? Der Zeitungsmacher blieb an seinen Themen beharrlich dran. Schirrmacher zettelte, als im Grunde konservativer Kulturkritiker, Debatten an: Was bedeutet es für unser Selbstverständnis, wenn die Hirnforscher uns den freien Willen absprechen? Was richtet es in unseren Seelen an, wenn uns Gentechniker den perfekt designten Menschen zur Seite stellen? Wie können wir als Bürger noch selbstbestimmt handeln, wenn wir nicht einmal merken, wie uns Google und Co. versklaven?

Politische Anstalt. Das Feuilleton als politische Anstalt, als Debattenforum, an dem die visionär erahnten Bedrohungen für den abendländischen Geistesmenschen verhandelt werden – das war Schirrmachers Ziel. Fremde Diskurse aufzugreifen lag ihm wenig, zumal dann nicht, wenn sie ihm rückwärtsgewandt und ressentimentgeladen erschienen, wie bei Walsers Schlussstrich oder Sarrazins Kopftuchmädchen. Die eigene Agora eröffnen: Im Erfolgsfall rückt das Feuilleton damit ins Zentrum jeder Zeitung. Etwa deshalb, weil sich viele Leser gar nicht für tagesaktuelle Details zur NSA-Affäre interessieren, sondern gleich wissen wollen, wohin sich der Weltgeist vergaloppiert hat. Läuft der Motor der Erregung, kann die Debatte ihren freien Lauf nehmen. Dann mag sich der publizistische Zündfunken am Ende ruhig als wohlfeile Mode erweisen (wie womöglich bei Schirrmachers Kapitalismuskritik) oder als Ausflug in die Verschwörungstheorie (wie vielleicht bei seiner Dämonisierung der Quantenforscher). Denn die nächste Causa für das Kulturgericht ist schon aufgerufen, zur Verhandlung auf der großen Bühne des druckfrischen Diskurses.

Wenn das alles gelingt, ist das Feuilleton gerettet. In Zeiten der Zeitungskrise ist es oft eines der ersten Ressorts, an denen gespart wird. Aber wer könnte auf das verzichten, wovon alle Welt redet? Deshalb die ehrliche Dankbarkeit in den vielen Abschiedsworten an Frank Schirrmacher. Sein Erbe ist freilich schwer: Es braucht noch viele von solch stark bewegten Bewegern, wie er einer war.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.06.2014)

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