Raus aus der zweiten Dimension

„Tote Erinnerung“ – eine Parabel auf die Informationsgesellschaft. Der Held wird hineingezogen in einen Strudel unerklärlicher Ereignisse.
„Tote Erinnerung“ – eine Parabel auf die Informationsgesellschaft. Der Held wird hineingezogen in einen Strudel unerklärlicher Ereignisse.Reprodukt
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Der Franzose Marc-Antoine Mathieu sprengt die Grenzen des Comic-Mediums. Ein Gespräch über Spiegelwelten, Schopenhauer und "Tim und Struppi".

Willkommen im Labyrinth: Die Großstadt der Zukunft platzt vor Überbevölkerung aus allen Nähten und ist erstickend perfekt durchorganisiert. Jeden Tag bahnt sich der von absurden Träumen geplagte Julius Corentin Acquesfacques seinen Weg durch die Massen zum Arbeitsplatz im Ministerium für Humor. Bis er eines Tages einen Umschlag erhält: Darin ist eine Seite eines Comics mit dem mysteriösen Titel „Der Ursprung“. Mit Staunen erkennt er darin sein eigenes Leben wieder – und der Leser eine bereits gesehene Seite des Buchs, das er in Händen hält: Denn Monsieur Acquefacques ist die Hauptfigur von Marc-Antoine Mathieus Debüt-Comic „Der Ursprung“, mit dem der originelle französische Kreative 1990 sofort international bekannt wurde.

Mathieus erster Soloband demonstrierte schon virtuos, was seine Kunst besonders macht: die Suche nach einem perfekten Verhältnis von Inhalt und Form, die seinen unterhaltsamen fantastischen Entwürfen eine zusätzliche philosophische Dimension verleiht. In „Der Ursprung“ gerät Acquefacques durch die Konfrontation mit den Comic-Seiten seines Lebens in ein existenzielles Dilemma – spätestens als Blätter aus der Zukunft eintreffen: Sein Schicksal ist buchstäblich vorgezeichnet.


Kafka rückwärts. Er ist ein Gefangener von Mathieus surrealem Universum, das zwei ganz unterschiedliche Inspirationsquellen hat, wie der Künstler gut gelaunt beim Comic-Festival der französischen Botschaft in Wien erzählt: „Ich bewundere Hergé. Wie so viele französische Kinder habe ich Comics mit ,Tim und Struppi‘ entdeckt. Als mein eigener Sohn noch nicht lesen konnte, habe ich ihm alle Bände vorgelesen.“ Mathieu hebt Hergés „enorme Lesbarkeit“ hervor: Seine eigenen Schwarz-Weiß-Zeichnungen erzeugen einen schwindelerregenden Drive durch die realistische Präzisionsarbeit mit der klaren Linie beim Gestalten der unglaublichsten Ideen.

Schon der Name seines Helden Acquesfacques, dessen sechstes Abenteuer Mathieu 2013 gezeichnet hat, verrät einen anderen, literarischen Einfluss: Kafka rückwärts. Gestrandet in exakt entworfenen Erzähllabyrinthen, die an Jorge Luis Borges erinnern. „Als Teenager, sobald ich etwas reifer war, haben mich Kafka und Borges geprägt“, erklärt Mathieu freimütig: „Meine Kunst ist wahlverwandt mit ihren Überlegungen, was den Sinn des Lebens betrifft.“ Dazu kam die Ambition, mit dem Medium selbst zu experimentieren: „Das ist mir so erst im Rückblick klar geworden. Ich begann autodidaktisch, Comics zu zeichnen, bis ich an die Universität ging. Dort habe ich mich fünf Jahre lang mit Dingen wie Architektur und Kino beschäftigt und das Zeichnen eingestellt. Unbewusst war meine Rückkehr zu den Comics von einer wohlüberlegten Entscheidung geprägt: mit dem Medium spielen, seine Grenzen auszuloten.“

In den Acquefacques-Bänden erlaubt Mathieu Figuren und Lesern atemberaubende Blicke über solche Grenzen hinaus. Mitten in „Der Ursprung“ ist ein Paneel herausgeschnitten, man sieht durch die Leerstelle in die „Zukunft“ der nächsten Seite – sowie nach dem Umblättern zurück in die „Vergangenheit“: ein Erzähl-Zeit-Spiel. Ein anderes Acquefacques-Abenteuer führt für einige Seiten in die dritte Dimension (eine 3-D-Brille ist beigelegt), eine Spiegelwelt-Geschichte ist tatsächlich gespiegelt, sodass sie von beiden Seiten her gelesen werden kann, in Endlosschleife – ein Comic-Möbiusband.

Die zweidimensionale Welt wird in der Vorstellung des Lesers gesprengt. Mathieu nickt, als er auf die Parallelen zu seinem zweiten Job angesprochen wird. Seine Grafikagentur Lucie Lom ist auf Ausstellungsdesign spezialisiert: „Die Herausforderung liegt darin, eine Atmosphäre zu schaffen, den Zuschauer zum Akteur zu machen.“

Gott als Popstar.
Das gilt auch für seine Comics: Mit Acquefacques oder dem Helden der Informationsgesellschaftsparabel „Tote Erinnerung“ wird der Leser in einen Strudel unerklärlicher Ereignisse gerissen, die so komisch wie existenzbedrohend wirken. In „Gott höchstselbst“ erzählt Mathieu Gottes Wiederkehr: „Es wäre ein Fehler gewesen, Gottes Wunder darzustellen. Ich lasse andere Leute über ihn erzählen, sodass man sich immer fragt, ob das plausibel ist – es entsteht ein Porträt Gottes, aber in Abwesenheit. Insofern ist der Titel des Buchs ironisch.“ Plausibel ist jedenfalls Mathieus Darstellung vom zunächst bejubelten, bald aber angefeindeten Wandeln Gottes auf Erden in der Ära der Medienexplosion: Er lässt sich als Popstar in Szene setzen.

Bei aller Fabulierlust haftet Mathieus Visionen etwas Beunruhigendes an. Seine Figuren sind Gefangene seines Universums: „Beim freien Willen“, so Mathieu, „halte ich es mit Schopenhauer. Aber durch die Kunst gibt es einen Ausweg. Wie Andrej Tarkovskij sagte: Man muss dem Zuseher bzw. Leser die Freiheit lassen, immer wieder neu zu interpretieren. Ich blicke gern mit etwas Distanz auf mein Werk, da sehe ich mich als Cousin von Woody Allen. Aber bei mir gibt es immer das Gefühl einer nahenden Katastrophe: Das Medium frisst sich selbst, seine Dimensionen werden gesprengt.“

Steckbrief

1958 wurde Marc-Antoine Mathieu in Frankreich geboren, nach dem Studium an der Schule der schönen Künste in Angers schuf er in den 1980ern zwei Comics in Kollaboration, davon eines mit seinem Bruder.

1990 erschien mit „Der Ursprung“ („L'Origine“) Mathieus erster Solo-Comic, der ihn schlagartig international bekannt machte. Mittlerweile hat Mathieu den kafkaesken Abenteuern des Helden Julius Corentin Acquesfacques sechs Bände gewidmet. Parallel hat Mathieu zahlreiche ebenso gefeierte Einzelbände realisiert und die Grafikagentur Lucie Lom betrieben.

Erhältlich sind Mathieus Comics in deutscher Übersetzung bei Reprodukt, neun sind bislang erschienen, weitere – darunter das jüngste Acquesfacques-Abenteuer – in Vorbereitung.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.08.2014)

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