Im Visier der Medien-Meute

Deutschlands ehemaliger Präsident Christian Wulff
Deutschlands ehemaliger Präsident Christian WulffREUTERS
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Der Fall Wulff war ein hysterischer Exzess, er hatte etwas Medienbestialisches. Warum nicht jeder Kleinkram aufgeblasen und skandalisiert werden darf – ein Plädoyer für mehr Fairness in einem grundlegend veränderten Journalismus.

Die Welt der Medien hat sich grundlegend verändert, das Internet hat sie internetisiert; der mediale Informationsausstoß hat sich ungeheuer beschleunigt. Das Internet hat einen Echzeitjournalismus geboren. In der Entwicklung des Journalismus haben zuerst Telefon, Funk, Satellit, Radio und Fernsehen aus einer distanzierten eine fast miterlebende Öffentlichkeit gemacht – aber nur fast. Das Internet hat das „fast“ beendet, es hat, wie gesagt, den  Echtzeitjournalismus geboren – dessen manchmal absurdes Kennzeichen der Liveticker ist, der auch dann tickert, wenn es eigentlich wenig zu tickern gibt. Die Hektik dieser Livetickerei und die eiligen Bewertungen, Meinungsäußerungen, Blogs, die diese Tickerei begleiten, setzt Journalisten und Politiker gleichermaßen unter Zugzwang. Das ist in dieser Wucht, in dieser Massivität neu. Das produziert eine Erregungsspirale, die sich immer schneller dreht, einen Erregungsstrudel, der immer heftiger saugt.

» Was darf Journalismus? «

Damit sind wir, wo sonst, beim Fall Christian Wulff, beim Fall des von Medien und Staatsanwaltschaft in den Rücktritt getriebenen deutschen Bundespräsidenten. Das „Netzwerk Recherche“, eine Journalistenvereinigung, die die Qualität der Medienberichterstattung stärken will, bereitet soeben eine Tagung vor, die den Titel tragen soll: „Im Visier der Meute. Recherche zwischen Fairness und Exzess“. Der Fall Wulff dürfte da eine gewichtige Rolle spielen. Der Fall Wulff war ein hysterischer Exzess, er hatte etwas Medienbestialisches.  

Dieser Exzess spielte sich ziemlich genau fünfzig Jahre nach der „Spiegel“-Strauß-Affäre ab, fünfzig Jahre nachdem der damalige Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß die Redaktion des „Spiegel“ durchsuchen und die führenden Köpfe des Nachrichtenmagazins verhaften ließ. Der Maßlosigkeit der Politik folgte also, fünfzig Jahre später, die Maßlosigkeit der Medien. Gewiss – andere Sachverhalte, kaum vergleichbar. Verbindendes Element ist die Exzessivität, mit der sich jeweils eine Macht präsentiert und inszeniert.

Ein Schneebällchen

Medien, Macht, Meinung, Manipulation: Vierzehn Monate nach dem Beginn der Ermittlungen und dem Rücktritt des Bundespräsidenten war von der Lawine der Schmähungen, Beschuldigungen und Verleumdungen des Christian Wulff strafrechtlich nur noch ein Schneebällchen übrig geblieben. Die Staatsanwaltschaft rollte dieses Schneebällchen mühsam als Anklage zum Gericht. In der mündlichen Verhandlung schmolz auch noch das Schneebällchen hinfort. Aber die Staatsanwaltschaft tat den ganzen Prozess lang so, als sei es eine Lawine. Wulff wurde freigesprochen.

Man darf fragen: Ist Wulff zu Unrecht zurückgetreten, zu Unrecht in den Rücktritt getrieben worden? Müsste es nicht, wenn nicht Zeit und Umstände und sein Nachfolger Gauck über ihn hinweggegangen wären, einen Rücktritt vom Rücktritt geben? Wie sieht Wiedergutmachung aus?
Diese Frage muss sich die Staatsanwaltschaft stellen, diese Fragen müssen sich auch die Medien stellen, die damals wochenlang jeden Tag neue Unglaublichkeiten über Wulff berichtet und bisweilen so rauschhaft präsentiert haben, dass das Publikum nach anfänglich partiellem Widerwillen geneigt war, alles, aber auch alles Schlechte über Wulff zu glauben.

Wer die Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft und des Landeskriminalamts liest, der erschrickt über die Selbstgerechtigkeit, Missgunst, Feindseligkeit und Häme gegen Wulff, die dort zum Ausdruck kommt. Sie war die – nun freilich paragrafengestützte – Fortsetzung der Selbstgerechtigkeit, der Missgunst, der Feindseligkeit und der Häme, die zuvor in den Medien geherrscht hatte. Auf den Skandalisierungsexzess folgte der Ermittlungsexzess. Der eine Exzess löste den anderen aus. Und jeweils fehlte unter anderem die Selbstkontrolle.

Man darf das, bei allen Unterschieden, die es zwischen einzelnen Zeitungen und Medien gab, so generell feststellen. Gewiss: Auch in der Redaktion meiner Zeitung, der „Süddeutschen Zeitung“ ist vehement diskutiert worden darüber, ob und wann es zu viel wird mit einer immer versesseneren Berichterstattung über immer mehr angebliche Details von angeblicher Vorteilsannahme und Bestechlichkeit; als es schließlich auch noch um ein Bobbycar für den Sohn Wulffs ging, genierte sich fast jeder und plädierte für Mäßigung und Einhalt.

Verbale Gewalt

Wenn man sich nachträglich durch die Artikelstapel von damals blättert, stellen sich Verwunderung, Beklemmung und auch Bestürzung ein schon über die schiere Masse. Schon diese Masse kann den Eindruck erwecken, dass hier Macht ausgeübt werden soll; schon in der Dichte und Frequenz von Artikeln und Sendungen liegt eine Art von Gewalttätigkeit. Diese Art von Gewalt ist nicht gemeint, wenn von der Presse als vierter Gewalt die Rede ist. Es ist nicht Aufgabe der Medien, einen Rücktritt zu erzwingen. Ein Rücktritt ist nicht die den Medien zustehende Bestätigung und Belohnung für die Aufdeckung einer Affäre. Und ein Ausbleiben eines heftig geforderten Rücktritts ist kein Angriff auf die Freiheit der Presse.

Pressefreiheit ist nicht dafür da, Journalisten lust- und machtvolle Gefühle zu verschaffen. Sie ist nicht die Freiheit zur Selbstermächtigung und Selbstbefriedigung, die in einem Rücktritt den Höhepunkt findet. Die Pressefreiheit ist für die Demokratie da; und Demokratie ist etwas anderes als eine Meute, die Beute will.

Die Causa Wulff bietet Anlass zur Gewissenserforschung. Dazu eignet sich am besten ein Satz von Paracelsus, dem großen Arzt aus dem 16. Jahrhundert: Dosis sola venenum facit – allein die Menge macht das Gift. Es darf das Gefühl für die Dosierung, es dürfen die Maßstäbe, es dürfen die grundlegenden Rechtsprinzipien nicht verloren gehen, zu deren Verteidigung die Pressefreiheit da ist. Zu den grundlegenden Rechtsprinzipien gehört auch die Unschuldsvermutung.

Unschuld verloren

Aber die Unschuldsvermutung hat ihre Unschuld verloren. Früher hat ein Trommelwirbel die Hinrichtung angekündigt. Heute leitet ein Medienwirbel das Ermittlungsverfahren ein. Sobald ein massiver Vorwurf – sei es jener der Steuerhinterziehung oder, schlimmer, der Kinderpornografie – öffentlich geworden ist, ist der Hinweis auf die Unschuldsvermutung wie der Versuch, ein Schaufenster mit dem Taschentuch abzudunkeln. Gewiss: Man darf das Unschuldsprinzip nicht überfordern. Es fordert weder die Ermittler noch die Medien zu dem unmöglichen Kunststück auf, so zu tun, als sei ein Verdächtiger völlig unverdächtig. Sonst wären ja Durchsuchungen und andere Ermittlungsmaßnahmen unzulässig. Unschuldsvermutung heißt: Alle Eingriffe dürfen nur so weit gehen, dass man sie gegenüber einem Verdächtigen, der in Wahrheit unschuldig ist, noch verantworten kann. Diese Verantwortung hat die Justiz, diese Verantwortung haben die Medien.

Um dieser Verantwortung gerecht zu werden, muss man sich über einiges im Klaren sein: Jeder, der einmal mit einem Mikroskop gearbeitet hat, weiß: Da kriegen auch Winzigkeiten ungewöhnliche Dimensionen. Und weil an den Rädchen, an denen die Vergrößerung eingestellt wird, nicht der Wähler dreht, sondern die „Bild“- oder eine andere Zeitung, hat der Wähler auch nicht das Gefühl für den eingestellten Vergrößerungsfaktor. Alles erscheint ihm gleich ungeheuerlich. Auch das führt zu einer Vergiftung der Sprache, zu einer Verrohung der Kritik, wie man sie im Internet und den dortigen Meinungsäußerungen beobachten kann. Es darf nicht jeder Kleinkram skandalisiert werden.

Pressefreiheit unterscheidet nicht nach Qualität, sie darf es nicht, weil sonst der, der über die Qualität urteilt, nach seinem Gusto den Schutz der Pressefreiheit gewähren und entziehen könnte. Pressefreiheit wäre dann kein Grundrecht, sondern ein Gnadenrecht, abhängig vom Geschmacksurteil. Pressefreiheit funktioniert also nicht nach dem Prinzip, mit dem Aschenputtel die Linsen sortiert hat: die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen. Wer Pressefreiheit unter den Vorbehalt politischer oder künstlerischer Qualität stellen will, macht sie kaputt. Die Grenzen der Pressefreiheit setzt nicht der Takt, sondern das Recht – das Straf-, Zivil- und das Presserecht.

Es hat seinen Grund, warum es das Grundrecht der Pressefreiheit gibt: Pressefreiheit ist die Voraussetzung dafür, dass Demokratie funktioniert. Wird dieser Grundsatz nicht mehr geachtet, wird das Grundrecht grundlos. Dann verliert der Journalismus seine Zukunft.

Gefärbte Haare

Es gehört nicht zum Kern der Pressefreiheit, ob und warum eine Politikerin abnimmt oder ob sich ein Kanzler die Haare färbt. Pressefreiheit ist nicht dafür da, Nebensächlichkeiten und Petitessen aufzublasen und zu skandalisieren. Es gehört auch nicht zum Kern der Pressefreiheit, über das Eheleben eines Politikers zu schreiben, über angebliche private Affären. Und es ist auch nicht unbedingt Pressefreiheit, wenn die Medien sich zum Schoßhund der Mächtigen machen oder als deren Lautsprecher funktionieren.

Das Grundsätzliche sollte das Hauptthema der Medien sein. Aber oft geht es eher um das Inszenatorische. Auch der politische Journalismus schaut oft ähnlich aus wie eine Theaterkritik. Über Parteitage wird berichtet, als handle es sich um eine Art Varieté. Aber die Politik legt es oft auch darauf an, sie will es so.

Pressefreiheit verpflichtet – dazu, den  Dingen auf den Grund zu gehen, sich nicht mit der Oberfläche zu begnügen. Das gelingt immer noch. Und so lang es gelingt, ist mir um den Journalismus nicht bange.Der Fall Wulff war ein hysterischer Exzess, er hatte etwas Medienbestialisches. Warum nicht jeder Kleinkram aufgeblasen und skandalisiert werden darf – ein Plädoyer für mehr Fairness in einem grundlegend veränderten Journalismus. 

Zum Autor

Heribert Prantl ist Mitglied der Chefredaktion der „Süddeutschen Zeitung“ und dort auch Leiter der Redaktion Innenpolitik.

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