USA: Fernsehen gegen den Eskapismus

American Crime
American Crime © 2014 American Broadcasting Companies
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Rassistisch motivierte Verbrechen, politischer Streit um Sozialbauten: Die neuen Serien „American Crime“ und „Show Me A Hero“ wenden sich sozialen Fragen zu, die man in Amerika sonst verschweigt oder mythologisiert.

Mystische Ritterspiele und Intrigen um Burgfräulein und Kronprinzen. Ein intrigantes Politikerpaar. Der dekorative Reiz der englischen Hocharistokratie oder einer chauvinistischen New Yorker Werbeagentur aus den Sechzigerjahren. Und natürlich Zombies: Von „Game of Thrones“ über „House of Cards“, „Downton Abbey“ und „Mad Men“ bis zu „The Walking Dead“ lockt die zeitgenössische amerikanische Fernsehserie Millionen mit handwerklicher Hochwertigkeit vor die Bildschirme.

Diese Programme fesseln ihr Publikum mit kluger Dramaturgie und Schauspielkunst. Vor allem aber verlocken sie zur Realitätsflucht. Amerika ist politisch gelähmt, neulich brachte man nicht einmal ein Gesetz gegen den Menschenhandel durch den Kongress. Die öffentliche Infrastruktur verrottet, wie jeder weiß, der einmal einen amerikanischen Zug bestiegen oder ein Amtsgebäude betreten hat. Trotz (oder wegen) der erstaunlichen Militarisierung der lokalen Polizeien rafft die Waffengewalt jährlich über 31.000 Menschen dahin. Und im Weißen Haus amtiert zwar ein schwarzer Präsident, doch in den Großstädten, die der Tourist bewundernd besucht, schicken nicht einmal linksliberale weiße Eltern ihre Kinder in die überwiegend schwarzen, unterfinanzierten staatlichen Schulen.

Vor all dem kann man in die Serienwelten flüchten. Dort bleibt man von Grundsatzfragen verschont. Gewiss lässt sich in die zwischenmenschliche Dynamik des Werbemachos Don Draper und seinen Gespielinnen eine geschlechterpolitische Signifikanz deuten, und das jahrelange Abknallen von Zombies in einer endzeitlich verwüsteten Höllenlandschaft mag manchen als Allegorie auf unterdrückte Verteilungskämpfe gefallen.

War es ein hate crime?

Wenn man aber meint, dass Fernsehen auch zum Nachdenken anregen soll, geht es auch anders. Dazu braucht man bloß die Frage in den Raum zu stellen, wer einen Irakkriegsveteranen erschossen und seine reizende Gattin geschändet und ins Koma geprügelt hat. Mit dieser schlimmen Aufstellung beginnt „American Crime“, die mutigste US-Serie der Gegenwart. Wir befinden uns in Modesto, einer staubigen Stadt in Kalifornien, in der weder vor noch nach der großen Finanzkrise Massenwohlstand herrschte. Die Eltern des toten Soldaten sind einander spinnefeind, die Mutter verzeiht es dem Vater nicht, dass er seinerzeit das Familienhaus verspielt hat. Felicity Huffman spielt diese zornige Frau, unter deren stählerner Fassade das Ressentiment brodelt. „Ein Illegaler?“, fragt sie rasch, nachdem die Polizei einen jungen Mexikaner mit der Kreditkarte ihres ermordeten Sohnes erwischt. Als bald ein metamphetaminsüchtiger Schwarzer tatverdächtig hinter Gittern sitzt, strebt diese Mutter danach, den Mord an ihrem Sohn als hate crime, als rassistisch motiviertes Verbrechen, von der Staatsanwaltschaft verfolgen zu lassen.

Der Rassismus durchzieht die Verhältnisse fast aller Charaktere in diesem hervorragenden Trauerspiel. Doch „American Crime“ degeneriert nicht zu jenem moralisierenden Kitsch, mit dem Hollywood fast jedes Problem zu einer erbaulich-harmlosen Übung in Selbstgerechtigkeit verkommen lässt. Die Mutter des ermordeten Soldaten brüllt keine rassistischen Parolen. Aber wenn sie den schwarzen Unterstützern des Hauptverdächtigen ein „Sie und Ihre Leute!“ („You people!“) entgegenzischt, öffnet sich der Blick auf die Realität der Rassenbeziehungen in den USA. Ebenso, wenn die zur (schwarzen) Nation of Islam übergetretene Schwester dieses Mannes ihm vorwirft, „ihre Drogen zu nehmen, ihre Frauen, damit sie dich dann in ihre Gefängnisse stecken können“.

All das ist brillant, und es zieht, ohne hier zu viel zu verraten, den Zuschauer in eine Kaskade von Abgründen. Denn nichts, was sich in der ersten Folge so eindeutig darstellt, ist so, wie es scheint: Stückweise offenbaren sich Entsetzlichkeiten in zuvor sorgfältig getünchten Fassaden heilen Familienglücks.

Ein Publikumsrenner ist diese donnerstags um 22 Uhr gesendete Serie nicht. Kommerzieller Erfolg war auch den zwei epochalen Serien von David Simon nicht beschert, mit denen er dem Unterhaltungsfernsehen im vorigen Jahrzehnt neue Würde verlieh. Weder „The Wire“ (2002 bis 2008) noch „Treme“ (2010 bis 2013) erzielten hohe Quoten.

In einigen Monaten wird auf HBO ein neues Werk von Simon, eines früheren Polizeireporters der „Baltimore Sun“, zu sehen sein. In „Show Me A Hero“ zeichnen Oscar Isaac, Winona Ryder, James Belushi und Catherine Keener einen erbitterten kommunalpolitischen Streit aus den Achtzigerjahren um Sozialbauten für Schwarze in der Kleinstadt Yonkers außerhalb New Yorks nach.

Mit dieser Miniserie, sagte Simon im Jänner zu „Grantland“, einer Plattform für Popkultur, wolle er auch einen eklatanten Mangel der amerikanischen Öffentlichkeit ansprechen: „Es gibt sehr wenig Raum für den institutionellen Journalismus, der sich früher gesellschaftlicher Strukturen annahm.“ Mit Serien wie diesen wolle er zum Nachdenken anregen: „Wenn die Sache aus den Unterhaltungsspalten verschwindet und die Leute beginnen, das Politische zu analysieren, dann bin ich zufrieden.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.03.2015)

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