Journalismus: Wir von der Regenbogenpresse

BRAZIL PROTEST
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Muss man über viele viel und über wenige wenig schreiben? Warum die Größe von Bevölkerungsgruppen nicht als Leitlinie für Journalisten taugt, man Kritik aber nicht den Polemikern überlassen darf.

Wenn man ins Suchfeld des elektronischen „Presse“-Archivs das Wort „homosexuell“ eingibt, spuckt das System für den Zeitraum zwischen 1. Jänner 2014 und 23. März 2015 die Zahl 377 aus. Mit dem Suchwort „Pensionist“ landet man in derselben Zeitspanne 361 Treffer, „Schüler“ wurden 1267-mal erwähnt.

»Darf man über Wenige Viel schreiben?
«

Die Zahlen illustrieren eine Frage, die sich Journalisten selten stellen, nämlich: Schreiben wir viel oder wenig über eine Bevölkerungsgruppe? Oder konkreter: Korreliert das Ausmaß unserer Berichterstattung mit der statistischen Größe der Betroffenen? Oder noch konkreter: Stimmt es, dass die Medien kleinen Gruppen unverhältnismäßig viel Platz einräumen – etwa Schwulen und Lesben? Diese Frage kam bei der Konzeption dieser Ausgabe auf und macht zunächst ratlos, weil sie nicht zum Selbstverständnis von Medien passt: Die aliquote Verteilung von Aufmerksamkeit auf verschiedene Bevölkerungsgruppen ist für Journalisten kein Leitsatz und sollte es auch nicht sein, wie Medienforscher Fritz Hausjell sagt: „Zeitungensind kein getreues Abbild der statistischen Wirklichkeit, sondern setzen per Definition einen Fokus.“ Auf das Neue, das Interessante, das Außergewöhnliche, auf die tektonischen Verschiebungen in der Gesellschaft. In den vergangenen Monaten gab es vom Adoptionsrecht für Homosexuelle über die Zulassung von lesbischen Paaren zur Fortpflanzungsmedizin bis zum Conchita-Hype viel zu berichten, analysieren, kommentieren. Punkt. Aufholbedarf. Und was wäre denn überhaupt die Bezugsgröße, an der man das misst? Genaue Zahlen zum Anteil der Homosexuellen an der Bevölkerung fehlen, Schätzungen schwanken extrem (drei bis zehn Prozent). Außerdem, gibt Hausjell zu bedenken, müsste man Eltern, Großeltern, Geschwister, Freunde in die Berechnung mit einbeziehen. Tatsächlich sind aber andere Parameter zur Bestimmung des richtigen Maßes wohl wesentlicher: Die Berichterstattung hat sozusagen immer noch historischen Nachholbedarf und ist gemeinsam mit der NS-Zeit, den Jahrzehnten des Unrechts, der Angst und der Diskriminierung, zu lesen.

Aber trotzdem gibt es ihn – den Vorwurf, den man in Zeitungsforen nachlesen kann: Dass die statistische Mehrheit von den Medien benachteiligt werde. Dass man offenbar nicht interessant genug sei, dass die „anderen“ zu viel Aufmerksamkeit bekämen – wobei Homosexuelle nur eine Gruppe von mehreren sind, die man mit den anderen meint.

Schriller Kristallisationspunkt dieses Sentiments war im Vorjahr ein Pamphlet des Ex-Katzenkrimi-Autors Akif Pirincçi. „Deutschland von Sinnen. Der irre Kult um Frauen, Homosexuelle und Zuwanderer“ sorgte in den Feuilletons für Empörung und wurde (deshalb) zum Bestseller. Pirincçi entzweite Leser und Redakteure. „Die Zeit“ kassierte nach einem Verriss derart harsche Leserbriefe, dass man aufgeschreckt zu einer Reportagereise zu den empörten Lesern aufbrach. Der Erkenntnisgewinn? Eher gering.

Man lernte nur: Wer – um beim Beispiel Homosexualität zu bleiben – Schwule und Lesben nicht leiden kann, wer Veränderungen in der Gesellschaft grundsätzlich ablehnt, dem können Zeitungen nicht helfen. Das ist auch nicht ihre Aufgabe. Der Umkehrschluss – sich taub zu stellen gegenüber der anbrandenden Kritik – wäre aber auch verkehrt. Man darf das Monopol auf Kritik nicht den Pirincçis dieser Welt überlassen. Damit würde man es sich ein bisschen einfach machen. Boulevard, überall. Einfach macht es einem der Essayist und Schriftsteller Franz Schuh nicht. Schuh ist ein kritischer Medienbeobachter. Die Medien, sagt er, würden im Kampf um Aufmerksamkeit die Tendenz zur „Fetischisierung des Außergewöhnlichen“ entwickeln. „Fetischisieren“ beginnt für ihn dort, wo Medien Privates inszenieren, Menschliches ins Schaufenster stellen. Wobei gerade bei der Berichterstattung über Homosexualität im Hintergrund oft ein sehr boulevardeskes Motiv schlummere, nämlich „die Faszination der vom Mainstream abweichenden Sexualität“ oder deutlicher: „das Winken mit der unterleiblichen Geilheit“.

Dabei spiele es keine Rolle, sagt Schuh, ob sich die Betroffenen in der Auslage nun wohlfühlen oder nicht. Denn das bekommen die Medienkonsumenten ohnehin nicht mit. Im Unterschied zu Christian Högl, dem Obmann der Homosexuellen-Initiative (HOSI) Wien: Wer ein Gesicht für eine Geschichte z. B. über das Adoptionsrecht von Homosexuellen braucht, landet oft bei ihm. Högl wird dann gefragt, ob er ein schwules oder lesbisches Paar mit Kind vermitteln kann, „am besten eines, das sich von vorn fotografieren lässt“. Das sei nicht immer leicht zu finden, sagt Högl – „nicht jeder will beim Semmelnholen mit Fremden sein Privatleben diskutieren“. Dass manche denken, Homosexuelle würden prinzipiell mit ihrem Privatleben an die Öffentlichkeit drängen, betrachtet Högl daher durchaus mit Ironie. Und er beobachtet, dass die mediale Regenbogenidylle auch anderweitig täuscht: „Ich sehe junge, schwule Paare, die glauben, dass sie demnächst ein Baby adoptieren können. Das ist aber allein angesichts der Wartelisten illusorisch.“ Toxische Toleranz. Apropos Täuschung: Der unterliegen bisweilen auch jene, die durch das mediale Megafon nach Toleranz rufen. Denn der Toleranz, sagt Schuh, haftet noch immer etwas Feudales an. Man verteilt sie gütig von oben nach unten. Überdies speist sich der Toleranzappell mitunter nicht nur aus dem schlechten Gewissen ob der langen Geschichte der Diskriminierung, sondern manchmal auch aus dem wohligen Gefühl eigener moralischer Überlegenheit.

Die es offenbar rechtfertigt, Kritik postwendend ins Vorurteilswinkerl zu verbannen. Dort gärt der Ärger toxisch, während die Debatte stockt. Denn die kreist dann nur mehr stur um die eigenen Moralvorstellungen und findet nicht den Ausgang in Richtung ethische Grundsätze. Dabei meint auch Högl, dass Kritik erlaubt sein muss: „Wenn es etwa um Leihmutterschaft für Schwule geht, steige ich aus“, sagt er und argumentiert generell gegen zu viel gut gemeinte Rufzeichen-Empörung: „Die Liberalität in der Gesellschaft ist ein zartes Pflänzchen. Gießt man zu viel Wasser drauf, geht es auch kaputt.“ Laut und leise. Aber genügend Wasser – sprich Aufmerksamkeit – braucht es doch. Wie man öffentliches Interesse herstellt, haben jene, die es sich erkämpfen mussten, inzwischen gelernt: Als heuer ein junges, lesbisches Paar wegen eines Kusses aus dem Café Prückel hinausgeworfen wurde, organisierte man ein Kiss-in vorm Café und schaffte es damit bis in deutsche Zeitungen. Zu Recht, wie Hausjell findet. Aber, sagt er, dieser Erfolgsmechanismus sollte auch zum Nachdenken anregen: Nämlich, ob Medien immer darauf warten müssen, dass ehemals Leise laut werden. Könnte man nicht von selbst das Gehör für die (noch) Stillen, den Blick für die noch wenig Sichtbaren schärfen?

Vielleicht wäre es auch spannend, die eigene Berechenbarkeit einmal zu brechen. Wenn zum Beispiel Christiane Druml, Leiterin der Bioethikkommission, mit Journalisten spricht, ist sie selten überrascht: Themen wie die In-vitro-Fertilisation für Lesben oder die der Vorab-Gentests für Embryos, die wenige betreffen, dominieren, Maßnahmen, die kein ideologisches Erregungspotenzial bieten, aber viele betreffen würden (Qualitätssicherung in der Fortpflanzungsmedizin) werden ignoriert. Ob sie das je stört? „Nein“, sagt sie, „man weiß das vorher.“ Und: Das sei ja natürlich. Eh. Aber in seiner Kalkulierbarkeit ist es auch ein bisschen fad geworden. Und das wollen Medien ja eigentlich nie sein.

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