Castingshows: Brot und Spiele

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Lasst uns abstimmen! Der Song Contest als Pionier des allgegenwärtigen Casting-Trends. Eine Annäherung.

Die wahre Bedrohung der Demokratie liegt in der wachsenden Kluft zwischen dem Volk und den politischen und medialen Eliten, die in seinem Namen zu sprechen vorgeben. Dadurch kann es zu Unruhen kommen, zu etwas Chaotischem und vielleicht Gewalttätigem.“ Das erklärte Michel Houellebecq Ende Februar in einem Gespräch mit dem „Spiegel“. Kultur und Sport wirken diesem Trend entgegen. Sie behaupten Egalité, Liberté, Fraternité – Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit. Klar, darin steckt eine gewisse Doppelzüngigkeit. Denn hinter den Kulissen des Sport- und Showbusiness herrschen mitunter Mord und Totschlag. Man könnte es auch vornehmer Ringen um die besten Plätze in Ligen und Castingshows nennen, nur vor der Kamera wird gelächelt, aber auch das nicht immer. Trotzdem gilt das Gebot der Fairness – zumindest offiziell. Und sind die Errungenschaften der Französischen Revolution schon in der richtigen Welt, in der Politik, in der Wirtschaft kaum umzusetzen, sollen sie wenigstens in der Unterhaltung ihren Platz finden. Wir amüsieren uns zu Tode, das berühmte Diktum von Neil Postman (immer diese pessimistischen Intellektuellen) von 1985 würden nicht erst heute viele junge und sogar ältere Leute mit der Frage: „Warum nicht?“ beantworten.

Herzig und geschniegelt. Der Song Contest, ein Kind der Nachkriegszeit, als der Glaube an einen ewigen Frieden trotz des Kalten Krieges solider war als heute, hat sehr alte Vorläufer: Richard Wagner bezieht sich mit „Tannhäuser oder: Der Sängerkrieg auf der Wartburg“ auf ein mittelalterliches Fest. Wie tröstlich, dass die alten Ritter nicht nur militärische, sondern auch kulturelle Turniere veranstalteten.

Auf YouTube kann man einen Zusammenschnitt der Auftritte sämtlicher Song-Contest-Gewinner von 1956 bis 2012 sehen, der aus mehreren Gründen interessant ist: Zu der Zeit, als Janis Joplin „Freedom’s just another word/for nothing left to lose“ und Joan Baez „We shall overcome“ sangen, sieht man beim Songcontest in den öden Fünfziger- und den immer wilder werdenden 1960er-Jahren herzige Mädchen und geschniegelte Herren, deren Namen (bis auf Sandie Shaw oder Udo Jürgens) überwiegend längst vergessen sind, eingängige Lieder trällern: „LaLaLa“, „Boom Bang Bang“ und „Eine Bank, ein Baum, eine Straße“.

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Schlager, die heute ihre (die wievielte?) Renaissance erleben, werden gern verachtet, sind aber in Wahrheit nicht nur ein gutes Geschäft, sondern qualitativ ein weites Feld: Roy Black („Ganz in Weiß mit einem Blumenstrauß“) war ein Schlagersänger, aber Reinhard Mey („Sommermorgen“), da würden nicht nur seine Fans protestieren, denn natürlich ist Mey, obwohl Deutscher, ein Chansonnier in französischer Tradition. Helene Fischer („Atemlos durch die Nacht“), Andreas Bourani („Auf uns“) oder Herbert Grönemeyer („Männer“), da liegen Welten dazwischen, die Grenzen zwischen Schlager und Pop, Kunst und Kommerz sind fließend (z. B. Cro mit „Hey Kids, ich bin Carlo“). Das waren sie durchaus auch immer beim Song Contest. Conchita Wurst ist nicht allein ein guter Marketing-Trick, sondern eine sympathische, auch polarisierende Kunstfigur, die eine Botschaft vermittelt: Freiheit im Design der eigenen Person, von der Umwelt werden Neugier und Toleranz erwartet statt Diskriminierung und Vorurteile.

Weg in die Biederkeit. Welche Veränderungen sehen wir noch beim Song Contest? Die verschiedenen Landessprachen wurden im Lauf der Zeit immer mehr durch das Englische verdrängt. Die Selbstinszenierung, der Singstil der Song-Contest-Teilnehmer, die Studios, das alles wirkte zunächst noch etwas hausbacken und handgestrickt, aber allmählich wurde die Inszenierung raffinierter. Die Frauen waren zunächst meist hochgeschlossen gekleidet. Das eurozentrische Weltbild mit Siegern aus beliebten Urlaubsländern wie Italien und Spanien wurde aufgeweicht, 1978/1979 gewann das seit 1973 teilnehmende Israel gleich zweimal hintereinander den Wettbewerb.

Was die Präsentation betrifft, haben die Castingshows einen ähnlichen Weg genommen wie der Song Contest, von einer gewissen Biederkeit, bei der man das Gefühl hatte, die Kandidaten haben noch etwas Freiheit, dürfen Persönlichkeit zeigen, abseits von dem, was im Vertrag steht, zum ausgefeilten Gesamtkunstwerk, bei dem nichts mehr dem Zufall überlassen wird. Christina Stürmer, die aus der ersten Starmania-Staffel 2002 als Zweitplatzierte hervorging und als eine der wenigen dieser Show eine langfristige Karriere aufbauen konnte, zeigte ein eigenständiges Profil. Ihre Wiederauflage des Donna-Summer-Hits von 1979 „Hot Stuff“ (Summers Album hieß „Bad Girls“) traf den Zeitgeist. Der Song formuliert klar sexuelle Ansprüche einer Frau („I need some hot stuff, Baby, tonight) und trat eine Lawine los, nicht nur für Summer und Stürmer. Letztere, noch keine 20, Buchhändlerin aus Linz, kultivierte fortan mehr oder weniger frivole Sehnsüchte sehr junger Mädchen nach Burschen im Anzug, Trips in schicke Städte („Wir fahren im Bus durch London“) und Leidenschaft („Du bist der Rausch/und ich will noch mehr Alkohol“, heißt es in Stürmers Lied „Ich lebe“). Da konnte es schon vorkommen, dass Eltern zusammenzuckten, wenn die siebenjährige Tochter mit Freundinnen im Auto von Sex auf dem Museumsklo und Kondomkauf auf dem Bahnhof sang.

Die Wirtschaft stand jedenfalls schon bereit, mit Lippenstift, Haargel, Miniröckchen, Decolletés, mit Push-up-BH und High Heels. Alles harmlos? Hoffentlich. Die Doppelmoral – einerseits Victoria’s Secret für Lolita, andererseits wachsender Missbrauch Minderjähriger, Kinderprostitution, Mädchenhandel – war offensichtlich. Aber noch in anderen Bereichen blühte eine Fusion von Begeisterung und Geschäft auf: Musikinstrumente, Computerprogramme fürs Komponieren und Musikvertreiben („11 Wege, um mit Musik Geld zu verdienen“ verheißt eine Homepage im Internet), Kurse für Tanz und Gesang und anderes mehr: Wer früher seinen Eltern sagte, er wolle ein Star werden, erntete bestenfalls Heiterkeit. Nun wurde Star-Werden von den Eltern finanziert.

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Von Kuli zum Casting. Die ersten Castingshows sind älter, als man annehmen würde, sie stammen aus den 1950er-Jahren, waren ein Nebenprodukt der Quiz- und Spieleshows wie „Einer wird gewinnen“ mit Hans Joachim Kulenkampff oder „Wünsch dir was“ mit Dietmar Schönherr. Mit der Jahrtausendwende hob für die Castingshows der ganz große Hype an: Der Neuseeländer Jonathan Dowling entwickelte „Popstars“, die über Neuseeland nach Deutschland kamen, „Pop-Idol“ kam aus England. Die epidemische Verbreitung des Votings hängt auch mit neuen technischen Möglichkeiten zusammen. Bei Peter Frankenfelds „Wer will, der kann, die große Talentprobe für jedermann“ in den 1950er-Jahren maß noch ein Applausometer den Beifall der Zuschauer, danach wurde der Sieger bestimmt. Heute gibt es das Televoting, beim Song Contest seit 1997.

Wichtig für moderne Castingshows ist das Massencasting, das suggeriert: Jeder hat eine Chance (manche sogar eine zweite, welch eine Verheißung, fast wie in der Beichte). Wer schöne Mädchen in Scharen zu Heidi Klums Model-Show strömen sieht, mag sich allerdings wundern, warum Frauen in der Blüte ihrer Jahre zur absichtlichen Demütigung antreten. Hier gibt es einen Generationskonflikt, Ältere finden „Germany’s Next Top Model“ degoutant – und werden von Jüngeren zurechtgewiesen: „Es ist doch nur Fernsehen, ein Spiel! Die Mädchen sind freiwillig dort!“ Dem Zufall ist in Castingshows offenbar nichts mehr überlassen, sogar die Texte der Akteure und Akteurinnen sind mittlerweile vorgeschrieben, jeder hat seine Rolle zu spielen.

Zu tun hat der Hype mit einem Glücksversprechen, auch mit einem Versprechen von Spaß und Abenteuer; dass viele nicht zum Zug kommen, andere ausscheiden, gehört eben dazu. Für die Zuschauer zählt der Voyeur-Effekt: Gut, dass ich nicht dort stehe und mir anhören muss, wie Dieter Bohlen meinen monatelang einstudierten Song zerpflückt. Nicht wenige der angehenden Gesangsstars, ob in Castingshows oder beim Song Contest, haben Migrationshintergrund, der integrative gesellschaftliche Effekt ist nicht zu unterschätzen.

Beim Lotto hoffen auch alle auf einen Sechser. Sport und Show erzeugen ein Wir-Gefühl, das politisch kaum mehr existiert. Castingshows sind Teil des medialen Hochbetriebes, in dem wir leben, Kontroversen in sozialen Netzwerken und Shitstorm inklusive. Der Pranger steht heute im Internet, auch die Heiligsprechung findet virtuell, medial statt. Und es gibt durchaus Synergieeffekte zwischen Castingshows und Song Contest: Unter den heurigen Song-Contest-Teilnehmern stammen viele aus Castingshows.

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Ab in die Arena. „Panem et Circenses“, „Brot und Spiele“, der Ausdruck stammt aus einer Zeit des römischen Reiches, in der das Volk entmachtet war und sich von der Politik abwandte, womit wir uns noch einmal kurz auf Hellseher Houellebecq und seine Bemerkung über die wachsende Kluft zwischen den „gewöhnlichen“ Leuten und den Eliten besinnen. Rein subjektiv herrscht das Gefühl vor, dass die Welt meistens schlecht und kaum zu ändern ist. Beim Entertainment kann man das getrost vergessen. Immer neue Gesichter, immer neue Stars, immer neue Lieblinge tauchen auf – und verschwinden wieder.

Das Casting selbst hat sich epidemisch verbreitet, was auch an der schlechten Wirtschaftslage liegt: Wenn jemand heute eine Stelle, und sei es auch nur als Lehrling, haben will, muss er zum Casting, wobei die äußere Erscheinung und das Auftreten oftmals eine wichtigere Rolle spielen als die tatsächlichen Fähigkeiten des „Kandidaten“. So hat selbst eine meist dem Frohsinn dienende Branche wie das Entertainment ihre Untiefen, aber dem Spaß am Mitfiebern tut das keinen Abbruch, weder bei der Castingshow noch beim Song Contest.

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