Unsere Autonomie? Die geben wir gerade im Netz ab

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Wie die Masse tickt, so klickt sie. Über Shitstorms, Likes und den Verlust unserer Autonomie.

Sepp, ein Salzburger Hotelier, stemmt sich gegen die Stimmung in seiner Gemeinde und nimmt Flüchtlinge auf. Samira, ein muslimisches Mädchen, packt ihre Siebensachen, verlässt das Elternhaus und zieht in den Heiligen Krieg. Heini, ein querköpfiger Unternehmer, legt sich mit der Finanzmarktaufsicht an und will lieber ins Gefängnis gehen als nachgeben. Solche Personen, die autonom handeln und Widerstände überwinden, nötigen uns Respekt ab, auch wenn wir im Fall der jungen Samira geschockt sind darüber, dass sie sich als Folge ihrer autonomen Entscheidung in die Zwänge eines exzessiv konformistischen Systems begibt.

An ähnlichen Lebensläufen hängen die Wissenschaftler Harald Welzer und Michael Pauen in ihrem soeben erschienenen Buch „Autonomie. Eine Verteidigung“ (S. Fischer) eine gelungene Parforcetour durch über zweihundert Jahre Philosophie und Sozialpsychologie auf. Sie weisen nach, dass staatsbürgerliche Autonomie Ergebnis des Zivilisationsprozesses ist, obwohl die berühmtesten Beispiele für autonomes Handeln bereits in archaischen Geschichten auftauchen: Antigone erweist sich in ihrem Widerstand gegen den Tyrannen Kreon als autonom. Adam und Eva greifen gegen Gottes Gebot nach der Frucht vom Baum der Erkenntnis.

Konformität von Like und Shitstorm

Doch die Autoren warnen davor, dass ein historisch gewachsenes Phänomen auch wieder verschwinden kann, zum Beispiel in der Gegenwart, in der Autonomie, ein zentraler Wert der westlichen Demokratie, von selbst gewählter Konformität in die Enge gedrängt wird. Was historisch erreicht worden ist, kann wieder verspielt werden.

Eine autonome Person hält an ihren Prinzipien fest, auch wenn es schwierig wird. Mit so einfachen Feststellungen geben sich die Autoren nicht zufrieden, sondern sie bereiten das spannende Verhältnis zwischen Autonomie und dem meist abgewerteten konformistischen Verhalten auf. Sich gruppenkonform zu verhalten, kann nicht nur Fischen im Schwarm beim Überleben behilflich sein, konformes Verhalten kann ein Überlebensvorteil sein, entlastet jedenfalls von Entscheidungszwängen. Wer andere über sich entscheiden lässt, sieht sich den Zumutungen der unübersichtlichen Welt weniger ausgesetzt: Das Gefühl der Sicherheit ist beruhigender als die anstrengende Entscheidungsfreiheit.

Bedenklich wird das Phänomen erst durch den Rückkopplungsmechanismus, durch den sich die Gruppenmitglieder gegenseitig beeinflussen und damit zu einem Verhalten bringen, das kein Mitglied, auf sich allein gestellt, jemals gezeigt hätte. Das führt dazu, dass die Regeln der Gruppe sich zu ändern beginnen, was zu weiteren Anpassungsprozessen führt – die Kettenreaktion, die sich herausbildet, ist schwer zu kontrollieren. Unterstützt werden diese Rückkoppelungsprozesse durch die sozialen Netzwerke und Onlinemedien, der Konformismus sorgt dafür, dass einmal in Gang gekommene Kampagnen immer mehr Anhänger finden: Man liked oder empört sich, weil andere es tun. Hier klickt die Masse, so tickt die Masse.

Pauen, ein Philosoph, und Welzer, ein Soziologe, beklagen, dass die Bedrohung der Autonomie und die Diktatur des Konformismus auch in die Wirklichkeit europäischer Demokratien zurückgekehrt sind. Überwachungstechnologien und Big Data sind dem selbstbestimmten Leben in einer freien Gesellschaft nicht förderlich. Diese Diskussion ist nicht neu. Doch die Autoren nehmen auch die neuen paternalistischen Strategien in der realen Politik ins Visier, das „Nudging“, mit dem Staatsbürger angestupst und so designt werden sollen, dass sie innerhalb der Systeme besser funktionieren.

Fremdsteuerung durch „Nudging“

Wer hat diese Form von Fremdsteuerung durch expertokratische Manipulationen legitimiert? In England wurde die Bereitschaft zum Begleichen von Steuerschulden angeblich durch individualisierte Mitteilungen erhöht: Der Nachbar habe seine Steuererklärung bereits abgegeben. Klingt harmlos, doch logischerweise könnte man in einem gewandelten politischen System Menschen auch zu ausgrenzendem oder aggressivem Verhalten „nudgen“. Fazit der Autoren: „Paternalistische Strategien haben in Demokratien nichts zu suchen. Sie sind harmlos aussehende Varianten der Fremdsteuerung und somit eine Kontrolltechnik, die Konformität manipulativ herzustellen sucht.“

Welzer hat den Totalitarismus der NS-Zeit und des Stalinismus erforscht, und er versteht es, die neue Art von „Totalitarismus ohne Uniform“ darzustellen. In der NS-Zeit hätten komplexe und konspirative Hilfenetzwerke manchen Verfolgten im Untergrund das Überleben ermöglicht. Unter den gegenwärtigen Bedingungen der informationsindustriellen Überwachung hätte keiner der Untergetauchten gerettet werden können. Die alte Ikonografie der Machtübernahme sei tot, der Wechsel zu neuen Herrschaftsformen passiere schleichend und gewaltlos und scheinbar ganz unideologisch durch die invasiven Strategien der Informationsindustrie: „Diktaturen arbeiten immer zuerst an der Abschaffung der Privatheit und des Geheimen und Verborgenen. Denn nur so lassen sich Menschen effektiv kontrollieren.“

Diesem neuen Totalitarismus genüge es völlig, dass die Menschen tun, was von ihnen gewollt wird. Handlungen, die man vor der Öffentlichkeit verbergen möchte, so der Vorschlag des Google-Chefs Eric Schmidt, sollte man am besten unterlassen. Es sei ein Fehler, so Welzer, sich an den historischen Totalitarismuserfahrungen zu orientieren, an Stalin, Hitler oder Pol Pot. Indem er ohne jeden Zwang und Terror auftrete, erlaube der Totalitarismus von Facebook, Google und Apple gerade deshalb kein Entkommen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.07.2015)

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