(Zwischen-)Bilanz nach 50 Jahren in der "Presse"-Redaktion

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Hans Werner Scheidls erster Tag in der "Presse"-Redaktion war genau vor fünfzig Jahren - ein Eintritt in eine Wunderwelt. Was er sich als Jugendlicher erträumte, hat sich erfüllt. Ein persönlicher Rückblick.

Fünfzig Jahre. Klingt irgendwie unoriginell, wenn man behauptet, sie seien wie im Flug vergangen. Und dennoch.

Am 10. August 1965 betrat man erstmals die Lokalredaktion der großen alten würdigen Dame namens „Presse“. Im 14. Stock des berühmten Heiligenstädter Pressehauses in der Muthgasse 2. Es war eine Ehre, als Sommergast einmal hineinschnuppern zu dürfen in eine Redaktion, ins echte Leben, nach dem man sich in manch öder Hochschulvorlesung gesehnt hatte.

Für neun Uhr war man telefonisch vom Chef des Lokalressorts bestellt worden, zu nachtschlafener Zeit, denn die Mittagskonferenz fand damals erst um halb drei Uhr nachmittags statt. Am Ende des großen Saales mit vielen Schreibtischen thronte er in einem Glaskobel, der Zuflucht vor dem Lärm der Redaktion bot.

Thomas Chorherr. Wie konnte man ahnen, dass dies der Lebensmensch werden sollte? Ein alter Herr – so war der erste Eindruck: Er war ja immerhin schon 33 Jahre alt, für den zwanzigjährigen Eleven ein Berg von Jahren, der uns trennte.

„T.C.“ war mäßig freundlich, weil man ihn vom Schreiben aufhielt. Sein Hinweis, man möge sich die aktuellen Zeitungen vornehmen, war ebenso deutlich wie die wachelnde Handbewegung, die den Anfänger aus dem Allerheiligsten scheuchte. Man verhielt sich also am besten still.

Die Zinnpest

Der zweite Herr in dem abgetrennten Chefbereich und die eifrige Sekretärin, sie schauten gar nicht erst auf. Herr Grolig, ein Star unter den Wiener Lokaljournalisten, diktierte, Frau Golestani hieb in die Tasten. Erich Grolig, so sollte sich schon in den nächsten Tagen herausstellen, war so etwas wie der Erste Offizier auf dem Ozeandampfer, ein bärbeißiger Zuchtmeister in der Lokalredaktion. Wer ihn überlebte, war für die Innenpolitik gewappnet. Ärger konnte es nicht mehr werden. Jeden Montag hatte man drei Vorschläge für Reportagen abzuliefern. Wir fertigten wie jede Generation vor und nach uns atemberaubende Storys ab. Etwa: „Zinnpest in der Kapuzinergruft“, „Die letzte Donaukanal-Überfuhr bei Heiligenstadt“, „Eine Fahrt mit dem Fiaker durch Wien“. . .

Der Vulkan Leitenberger

Erich Leitenberger. Ein nobler, distanzierter, eleganter Redakteur, der später Kommunikationschef der Erzdiözese Wien wurde und dort bis zum Ruhestand verblieb. Die anfängliche Vermutung, er sei mit der Kulturlady Ilse L. verwandt, bestätigte sich nicht. Es hätte auch nicht gepasst. Erich sprach zeitlebens nie laut. Ilse hingegen glich einem Vulkan. Wie dieser konnte sie tagelang ein friedvolles Antlitz zeigen, doch bei der kleinsten Ungeschicklichkeit prasselte glühende Lava herab. Eine Flut von Belehrungen, ein Stakkato dunkler Flüchen, unterbrochen von theatralischen Anflügen einer nahenden Herzattacke – so konnte sie auch sein. Dann nahm sie den Jüngling beim Arm und schubste ihn kurzerhand wieder in sein Redaktionskämmerchen. Und schon war alles wieder vergeben und vergessen.

Grete Demartini, eine Lady. Sie berichtete aus dem Gerichtssaal „Presse“-like – unaufgeregt, präzise, kompetent. Sie kam von der APA.

Joseph Zoderer. Ein kerniger Südtiroler, der das Dasein in der Lokalredaktion nur als Übergangsstation, als Brotberuf, betrachtete. Er wurde ein begnadeter und renommierter Schriftsteller, Sonny Weichart, eine fröhliche Reporterin, Heinz Hosch, ein von der Damenwelt umschwärmter Fotograf – und schließlich viele freie Mitarbeiter. Mit der Zeit kam man drauf, dass wir 13 an der Zahl waren.

Der Computer-Freak

Rolf Rothmayer. Ein bescheidener Alleswisser. Konnte jede Frage über Technik, Philosophie, Anthropologie, Geschichte und Marxismus beantworten. Wenn man ihn fragte. Er beschäftigte sich mit Computern lang vor uns allen. Man bedenke: in den Sechzigerjahren. Rothmayer war das rare Exemplar eines freimütigen Freimaurers, also einer, der aus seiner Zugehörigkeit genauso wenig Aufhebens machte wie aus seiner Kenntnis der russischen Sprache, des „Kapitals“, mathematischer Gehirnakrobatik oder des Alten Testaments.

Fritz Dunner, auch er kam als enttäuschter Kommunist von der „Volksstimme“ zur „Presse“. Er diente kenntnisreich in der Wirtschaftsredaktion, bis er bei einem großen Konzern als Pressesprecher anheuerte. Friede beider Asche.

„Jeder Trottel ...“

Günter Templ schließlich. Ein gefürchteter Kommunalredakteur, kenntnisreich und scharfzüngig, ein wahrer Schrecken für die Stadtväter. Die heutige Rathaus-Methode, scharfe Kritiker mit millionenschweren Inseraten zum Schweigen zu bringen, die war damals noch nicht üblich. Die hätte auch zum Grandseigneur-Stil des Bürgermeisters Marek nicht gepasst. Auch das hat sich in den vergangenen fünfzig Jahren stark geändert.

Zwei Tage war man nun schon in der Redaktion. Aber was tun, wenn man rasch die Tierkörperverwertung Korneuburg braucht, und dort ist Mittagspause? Herr Templ wird wohl helfen können, wozu kennt man sein Bild schon lang aus der Zeitung! Herr Templ hackt in seine Schreibmaschine. „Herr Templ, könnten Sie mir bitte ...“ Ein giftiger Blick zurück, Templ rauft sich den kohlrabenschwarzen Bart. „Jeden Trottel schicken s' zu mir. I hab ka Nummer!“

Später sind wir gute Freunde geworden. So wie mit allen, den inzwischen toten und den noch Lebenden.

Otto der Große

Die hohen Herrschaften erblickte unsereins natürlich nur in Ausnahmefällen. Ab und zu erschien Otto Schulmeister im Lokalteil. Wahrscheinlich nur, weil das Ressort auf derselben Ebene wie die Chefredaktion lag. Zur Prüfung, ob man in diese elitäre Redaktion passte, war man erst nach einigen Wochen eingeladen. Nach einem artigen Diener bei der Chefsekretärin, der gestrengen Hilli Madelsperger, stand man also erstmals vor IHM, der „Die Presse“ verkörperte. Und zwar er allein.

Freundlich verlief das erste Gespräch. Aber Otto der Große konnte auch anders. Ganz anders. Große Schauspielkunst war das. Aber beileibe nicht immer ein Gaudium.

„Papa Kuhn“

Es gab, so erfuhr man bei gelegentlichen Rundreisen durch die obersten Stockwerke des Presse-Turmes, schon auch einen Geschäftsführer, den gütigen Kommerzialrat Kuhn. Aber der hatte nicht die Attitüde, sich in den Vordergrund zu drängen und Schulmeister die Schau zu stehlen. „Papa Kuhn“ genügte es allemal, sämtliche Wichtigtuer in Wien zu kennen. Und sie kannten ihn. Er residierte im 15. Stock, und man wurde seiner auf jeden Fall einmal im Monat ansichtig, wenn man hinaufgerufen wurde und „Papa Kuhn“ aus einer großen Schuhschachtel das spezielle Kuvert herauszog, darin befanden sich der Lohnstreifen und das Geld, säuberlich abgezählt. Kuhn hatte für jedes seiner Schäfchen ein freundliches Wort, erzählte bisweilen, dass „der Doktor Schulmeister“ mit einem zufrieden sei. Ein Schulterklopfen seinerseits, eine Verbeugung unserseits, das war „der 15. Stock“, wie man ehrfürchtig raunte.

Der „15. Stock“

Direktor Praus sah man nur, wenn das Farbband der Schreibmaschine unbrauchbar geworden war. Freilich musste man die traurigen Reste vorweisen, bevor eine neue Spule ausgehändigt wurde, nicht ohne vom Herrn Direktor diskret gerügt zu werden: „Schreibts net so viel!“ Vom Prokuristen Kopriva sahen wir Jungen nichts.

Das war die Verwaltung. Zu der gehörten natürlich auch noch Anzeigendirektor Spieß und Herr Janach. Ein kleines Männchen, schon in die Jahre gekommen, aber ein fröhlicher Plauderer, der den Jungen Pikantes aus der Jugendzeit unserer „Gottöbersten“ zu erzählen wusste. Was hatte der schon alles mitgemacht! Liebesdramen in der Redaktion und Scheidungsskandale, Partnertausch – ganz rote Ohren bekam man beim Zuhören ...

Das Faktotum

„Janach“, empörte sich einmal der Geschäftsführer, „auf dem Pariser Flughafen gibt's alle Weltblätter am Kiosk, nur unsere ,Presse‘ hab ich nirgends gesehen. Sorgen S' dafür!“ Janach war zuerst entsetzt. Was das kosten würde! Also tuschelte er mit der Chefsekretärin. Und als „Papa Kuhn“ wieder nach Paris startete, war Janach schon vor ihm auf dem Flughafen, gab einer AUA-Stewardess ein Exemplar der „Presse“, zusätzlich ein gutes Trinkgeld. Als der Herr Kommerzialrat am Zeitungsstand vorbeikam, lachte ihm seine „Presse“ entgegen. „Janach, Sie werden zum Direktor ernannt“, telefonierte er noch aus Frankreich.

Altgedient war auch Herr Bursky, der angesichts seiner eleganten Erscheinung durchaus ein „von“ verdient hätte. Er produzierte Sonderbeilagen, war also ein bedeutender Faktor des Blattes, aber nebenher ein nobler Causeur, dessen Maßanzüge einen Tick eleganter schienen als jene Schulmeisters. Er rettete so wie Milan Dubrovich einen Hauch jener seligen Kaffeehaus-Zeit zu uns herüber.

Der Herr Bacher

Wer oberhalb von uns im 16. Stock residierte, das offenbarte sich einem erst so nach und nach. Da gab es neben den zwei großen, schnellen Liften noch einen dritten, einen kleinen, nur mit einem eigenen Schlüssel zu bedienen. Der war für Fritz Molden und Gerd Bacher reserviert – zur Himmelfahrt in den Molden-Verlag ganz oben.

Was bleibt von den tausenden Begegnungen während dieser fünfzig Jahre? Viele Bekanntschaften, aber – interessant: kaum Freundschaften. Dafür sind die Beziehungen zwischen Politikern und Journalisten nicht geschaffen. Es ist wohl auch besser so.

Technischer Quantensprung

Eines aber bleibt ganz sicher: der waghalsige technologische Sprung vom Zeitalter der Schreibmaschine und des Bleisatzes in die Ära des Computers. Vor genau dreißig Jahren spielte sich das ab. Der Auftrag der Geschäftsführung (Johann P. Fritz und Wolfgang Vyslozil) lautete, innerhalb eines Jahres die Umstellung ohne Geschäftsschädigung zu bewerkstelligen. Ein aussichtslos scheinendes Unterfangen, denn es gab keine Vorbilder in Europa. „Die Presse“ sollte die Vorreiterrolle für alle österreichischen Zeitungen spielen. Die Gewerkschaft sah uns genau auf die Finger, denn die Setzer und Metteure - hoch qualifizierte Fachkräfte – wurden arbeitslos.

Aus der Schweiz kam das erste Computersystem, doch der Rat der Ingenieure war frustrierend: Eine Woche lang würde täglich das System „purzeln“, man möge daher zunächst keine Inserate annehmen. Doch wir Dilettanten hatten auch unseren eigenen Ehrgeiz, und so lief die Produktion nach einem halben Jahr Trockentraining problemlos. Am 2. Jänner 1986 wurde der Schalter umgelegt – die Zeitung erschien wie an allen Tagen zuvor.

Glücklicher als Karl Kraus

Fünfzig Jahre ohne Pause, mit wenig Urlaub und keinerlei Krankenständen. Mit Fröhlichkeit und mit einem Lachen, das diese 18.250 Tage begleitet hat. Keinen einzigen hat man bereut. Der scharfe Kritiker Karl Kraus hatte sich einst erfolglos um einen Redakteursposten im Feuilleton der „Neuen Freien Presse“ beworben. Danach urteilte er: „Es gibt zwei schöne Dinge auf der Welt: der ,Neuen Freien Presse‘ angehören – oder sie verachten!“ Karl Kraus entschied sich notgedrungen für Letzteres. Er war ein unbarmherziger Hasser dieser Zeitung. Er wurde berühmt. Und war unglücklich. Ich habe mich für das Erste entschieden: nicht so berühmt wie Karl Kraus, aber dafür glücklich. „Die Presse“ war und ist auch nach fünfzig Jahren noch die Liebe meines Lebens.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.08.2015)

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