Nachrichten nur noch als Video? – „Wenn die Leute das wollen“

Screenshot DiePresse.com/New York Times
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So behäbig die „New York Times“ auf manche Digitaltrends reagiert: Beim Bewegtbild ist sie Pionierin. Der Vizechef der Videoabteilung, Bill Horn, erzählt, welche Clips die meisten Zugriffe bringen und warum sich sein Team auch an experimentelle Videokunst wagt – etwa über Justin Bieber.

Es war eine unerfreuliche Sache für die „New York Times“, als im Vorjahr ihr monatelang gestalteter „Innovation Report“ nach außen drang und der internationalen Medienwelt ein ziemlich detailliertes Bild ihrer internen Abläufe offenbarte. Eine der Erkenntnisse des Berichts war, dass sich der 165 Jahre alte Zeitungstanker in neuen, digitalen Medienfeldern schwerer bewegt als jüngere Mitbewerber wie Buzzfeed, Vice oder die „Huffington Post“. Dabei betritt die „New York Times“ in einem Bereich seit einigen Jahren sehr forsch Neuland: beim Bewegtbild.

Die Videoabteilung ist nicht nur eines der schnellstwachsenden, sondern auch eines der größten Departments der Zeitung. Vor vier Jahren werkten dort nur 15 Reporter, heute sind es 50. Gut 90 Prozent der Videos werden vom Manhattaner Büro aus produziert, die restlichen zehn Prozent stellen freie Redakteure in aller Welt oder Mitarbeiter in den Redaktionen in Hongkong oder London. Bill Horn ist einer der Leiter der Videoabteilung und seit mehreren Jahren Lehrender am Wiener Lehrgang für „International Media Innovation Management“ (IMIM).

Seinen Studenten will er vermitteln, dass es in modernen Medienunternehmen nicht darum gehe, etwas „völlig Neues zu machen. Das ist oft schon aus finanziellen Gründen gar nicht möglich. Es geht darum, kreativ zu sein mit den Mitteln, die man hat“, sagt er in seinem New Yorker Büro. Denn auch in der „Times“ gibt es keine Budgets ohne Einschränkungen. Ein Drittel ihrer Inhalte für Videos kommt von Nachrichtenagenturen wie AP und Reuters. „Wir decken damit Nachrichten aus aller Welt ab, versuchen diese aber ,Timesish‘ aufzubereiten.“ Soll heißen: Jedes Video soll in einer Sprache und Optik produziert werden, die zur „New York Times“ passt. Derzeit bringen die klassischen, relativ kostengünstig produzierten Nachrichtenvideos, die oftmals den dazugehörigen Text aus der Zeitung ergänzen, die meisten Zugriffe. Daneben gibt es Serien wie die Fashion-Berichte von Bill Cunningham oder die Städtetipps „36 Hours“, Kochvideos und aufwendig gestaltete Features.

Zu anspruchsvoll für YouTube

Für manche Videospielereien gibt das Team bis zu 100.000 Dollar aus und investiert viel Zeit. Mitte August erschien das sehr ansprechend gemachte Video über den Elektronik-Remix einer Justin-Bieber-Ballade. Der Popstar hatte gemeinsam mit dem DJ Diplo und dem Elektronikmusiker Skrillex einen Remix seines Hits „Where are Ü now“ produziert. In dem achtminütigen Video erzählen die drei sehr verschiedenen Künstler von der Produktion und der Arbeit an der Musik. Zu den klassischen Interviews wurden grafische Elemente wie Blasen und Linien gemischt, die entlang des Bildschirms hinunterfahren und die einzelnen Töne und Drum-Beats sichtbar machen. So entstand ein Video, das zwar nicht unbedingt an die klassische nachrichteninteressierte Zielgruppe gerichtet ist, aber eben auch nicht nur Justin-Bieber-Fans, sondern Musikinteressierte entzückte.

Obwohl das Video nicht zum YouTube-Hit wurde, weil es dafür zu anspruchsvoll war (nur knapp über 200.000 Aufrufe, die Zugriffszahlen auf der „Times“-Webseite sind nicht bekannt), will das Videoteam der „Times“ mit solchen Experimenten auf seine Videokunst aufmerksam machen. „Wenn der 22-jährige Internetnutzer auf eines unserer Videos klickt, soll er merken, dass das bei uns eine Spur besser ist als anderswo“, sagt Horn. Die Videos sind mittlerweile auch eine kommerzielle Einnahmequelle, weil vor fast allen Clips Werbung zu sehen ist. Die ist allerdings auch für zahlende Kunden sichtbar. Derzeit überlegt man offenbar noch nicht, den mittlerweile über eine Million Digital-Abonnenten einen werbefreien Zugang zu den Videos zu ermöglichen.

Bill Horn ist, wenig verwunderlich, kein Fortschrittspessimist. „Wenn die Menschen eines Tages Nachrichten nur mehr in Videoform konsumieren wollen, ist das gut. Unsere Rolle ist nicht, den Menschen ihren Medienkonsum vorzuschreiben. Wir sind dazu da, ihnen Nachrichten zu erzählen. Und Videos sind nicht das Ende von irgendetwas. Wir hören auch nicht auf, die Zeitung zu drucken. Solange Menschen eine gedruckte Zeitung lesen wollen, werden wir sie drucken.“

Bill Horn spricht AM Mittwoch die Keynote bei der Graduierungszeremonie des IMIM in Wien (Museumsquartier, Barocke Suiten A, 18 Uhr; Eintritt frei).

-> Das Video mit Justin Bieber, Skrillex und Diplo.

Zur Person

Bill Horn. Der studierte Anthropologe und Fotograf arbeitet seit 2007 für die „New York Times“, seit 2014 ist er Vizechef der Videoabteilung. Sie ist mit 50 Reportern eine der größten und am schnellsten wachsenden Abteilungen der Traditionszeitung. Horn lehrt zudem am Wiener Master-Lehrgang für „International Media Innovation Management“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.10.2015)

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