Auf der Flucht vor den Nazis

Der Riss der Zeit - Die Vertreibung von Intelligenz und Kultur
Der Riss der Zeit - Die Vertreibung von Intelligenz und Kultur(c) ORF (Florence Vandamm 1940/New York P)
  • Drucken

Helene Maimanns Film „Der Riss in der Zeit“ erzählt über die Vertreibung von Künstlern, Intellektuellen zur NS-Zeit. „Emotional“ ist er wegen der aktuelle Flüchtlingskrise.

Tagelang saß Helene Maimann in diesem Sommer im ORF-Archiv, um Material für ihre historische Dokumentation über die Vertreibung von Wissenschaftlern, Intellektuellen und Künstlern während der NS-Zeit zu finden. „Ich wollte einen coolen Film machen“, erzählt sie. Doch jeden Tag, wenn sie abends nach Hause kam, hörte sie in den Nachrichten von der Flüchtlingswelle durch Europa. „Da ist ,Der Riss der Zeit‘ dann doch emotionaler geworden. Der Film hat durch die Ereignisse des Sommers eine Eigendynamik bekommen: Ich wusste, das muss ein Film über das Flüchten und das Ankommen sein, auch wenn die Situation von heute anders ist als jene von damals.“

Die Schwarz-Weiß-Bilder sind ein wenig zerkratzt. Sie zeigen Menschen, die das Weite suchen – die Habseligkeiten in sperrigen Koffern, die Kinder an der Hand. In einer anderen Szene nähern sich NS-Flieger heulend einer Flüchtlingskolonne und klinken ihre Bomben direkt über den Hilflosen aus. Diese Seite der Flucht, sagt Maimann, wollte sie unbedingt auch zeigen. Denn auch wenn die menschlichen Karawanen heute nicht beschossen werden – die Bilder gleichen sich.

50 Jahre später noch zum Weinen

Vertreibung, das ist ein Schicksal, von dem man sich nie erholt. Eindrücklich veranschaulicht Maimann das mit Bildern aus dem Jahr 1988: Hans Zeisel (einer der Autoren der Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“), der in die USA emigriert war, spricht bei einem Symposium über sein Schicksal. Seine Lippen zittern, immer wieder stockt seine Erzählung: Ein Wiener Polizist habe ihm einst über eine Hintertreppe die Flucht aus dem Arrest der Nazis ermöglicht. „Verschwind!“, hatte er ihm zugeraunt – und ihm das Leben gerettet. „Fast 50 Jahre später beginnt er noch immer fast zu weinen“, ist Maimann berührt.

„Es gab damals keine UNO, keine Flüchtlingskonvention, keine NGOs.“ Dafür halfen viele private Initiativen. Etwa der US-Journalist Varian Fry. „Er ist nach Marseille gefahren und hat Menschen zur Flucht verholfen. Allein 200 Schriftsteller, Intellektuelle, Künstler aus Deutschland und Österreich waren dabei.“ Die Liste der Vertriebenen ist lang – darunter sind Sigmund Freud, Billy Wilder, Kurt Gödel, Friedrich Torberg, Franz Werfel und Hugo Wiener. Hat sich Maimann auch gefragt, was passiert wäre, wenn sie geblieben wären? „Es wären vielleicht nicht alle dageblieben, denn es waren ja überhaupt schwierige Zeiten. Aber die meisten schon – vor allem die Literaten, die waren ja durch die Sprache und durch die Kultur gebunden.“ Amerika habe von dem Zuzug so vieler brillanter Persönlichkeiten profitiert. „Da waren Nobelpreisträger dabei, die haben das amerikanische Uni-System aufgebaut. Das Amerika der 1930er-Jahre war ja nicht das Amerika der bekannten Universitäten, auch nicht das von Coca-Cola oder des großen Films. Die Amerikaner wissen sehr genau, was sie dieser Flucht zu verdanken haben.“ 15.000 Intellektuelle und Künstler mussten fliehen, viele konnten sich eine neue Existenz aufbauen. Das ist die positive Seite dieses Films. „Er ist all jenen gewidmet, die auch heute die Flucht überleben.“

„Der Riss in der Zeit“: 10. 10., 20.15 h, auf ORF III

„Flucht und Exil in der NS-Zeit“: ORF-III-Programmschwerpunkt bis 26. Oktober

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.10.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.