Katholischer Meister der alten Mythen

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FRANCE-LITERATURE-GIRARD-FILES(c) APA/AFP/DERRICK CEYRAC (DERRICK CEYRAC)
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Der französische Philosoph René Girard, berühmt für die „mimetische Theorie“, ist 91-jährig gestorben.

Der Terrorismus entstehe „durch das heftige Bedürfnis, mit dem Westen zu konvergieren und ihm ähnlich zu werden“, sagte René Girard nach den Anschlägen des 11. September. Durch ein globalisiertes „mimetisches Begehren“ also – und genau das war für den Philosophen Triebkraft der Gewalt.

Der seit Jahrzehnten in den USA lebende gebürtige Franzose, Mitglied der Académie Française, ist am Mittwoch 91-jährig in Stanford (Kalifornien) verstorben, wo er zuletzt gelehrt hatte. Girard dachte quer zwischen Anthropologie, Religionsphilosophie und Literaturwissenschaft. Ein „mimetisches Begehren“ (der Trieb zu haben, was der andere habe) treibe den Menschen zu Positivem wie zu Negativem: Diese Grundannahme gewann er zunächst aus der Literatur – etwa den griechischen Tragödien, Shakespeare oder Proust. Auch Gewalt, so Girard, entstehe durch Nachahmung. In der Gewaltspirale werde das Objekt, um das man streite, unwichtig, die Gewalt eskaliere allein durch Mimesis. Eingedämmt aber werde sie durch den „bouc émissaire“ – den Sündenbock.

„Das Heilige und die Gewalt“

In diesem Licht las Girard die alten Mythen – als Berichte über Gewalt und deren Eindämmung. Sogar ein eigenes Buch hat Girard dem für ihn zentralen „Sündenbock“ gewidmet. Die Ermordung oder Vertreibung des einmütig ernannten, in Wahrheit willkürlich gewählten Schuldigen, so Girard, „reinige“ die Gruppe von der Gewalt. So erklärt sich der Titel seines berühmtesten Werks, „Das Heilige und die Gewalt“ („La violence et le sacré“). In der Religion glaubte Girard das Wissen über den Zusammenhang von Gewalt und Mimesis sowie über die Rolle des Sündenbocks erhalten. Freilich müsse Religion zugleich dieses Wissen verschleiern (ein Sündenbock kann nur wirksam sein, wenn die Menschen ihn als schuldig sehen). Erst das Christentum enthülle diesen rituellen Mechanismus und mache ihn obsolet – durch die Forderung nach totalem Gewaltverzicht.

Nicht nur dass René Girard überzeugter Katholik war, machte ihn vielen verdächtig; oft wurde ihm auch vorgeworfen, dass er die Belege für seine Theorien über den Zusammenhang von Mimesis, Gewalt und Religion sehr selektiv auswähle. Dennoch hat er mit ihnen viele Geisteswissenschaftler beeindruckt und beeinflusst. Die Stanford University nannte sein Werk in einer Reaktion auf seinen Tod „eine kühne und weite Vision der Natur, der Geschichte und des menschlichen Schicksals“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.11.2015)

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