Ein Mittelfinger und die Macht der Worte

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Nicht nur in Paris sang man die "Marseillaise", nicht nur in Salzburg die "Internationale". Nicht nur in Venedig las man das "Kapital" und nicht nur in Wien den Koran.

War die spätere Frau des griechischen Finanzministers, Yanis Varoufakis, das Vorbild für die reiche Kunststudentin, die so gern „wie die einfachen Leute“ sein will, im Song „Common People“ der Britpop-Band Pulp? Diese im Mai aufgeworfene Frage wuchs sich doch nicht zur großen Feuilletondebatte aus – wiewohl man daraus einiges über Glanz und Grenzen von Linkspopulismus hätte lernen können. (Der das politische Spektrum ergänzen wird, ob man das gut findet oder nicht.) Der gereckte Mittelfinger ihres Mannes wurde dagegen zur wohl meistdiskutierten Geste des Jahres, auch weil der deutsche Komödiant Jan Böhmermann fälschlich behauptete, er habe das Video, das sie zeigt, gefälscht: die Aufdeckung eines Fakes, die sich als Fake erwies. Mediensatiresatire.

Darf man so etwas? Und überhaupt, was darf Satire? Nach dem IS-Anschlag auf Charlie Hebdo fragten das viele wieder einmal, am meisten überzeugte die Antwort: im Prinzip alles. Wenn man niemandem dabei wehtut, darf man sich auch ohne erklärte satirische Absicht selbst persiflieren, wie der Volks-Rock-'n'-Roller Andreas Gabalier, der z. B. weiter darauf besteht, dass die Hymne töchterfrei sein möge.

Wie ernst, wie wörtlich darf und soll man Texte nehmen? Diese Frage stand hinter einer anderen Debatte: Kann man die „Marseillaise“ als Fanal gegen Feinde der Freiheit singen? Einen Kriegsgesang, in dem es heißt, dass „unreines Blut unsere Furchen tränken“ soll? Oder verblasst die blutige Bedeutung der Worte mit der Zeit? In der „Internationalen“, die „Jedermann“-Akteure sangen, als sie H. C. Strache auf dem Domplatz sahen, ist zwar auch von Blut die Rede, aber vom Blut der Armen, das „nicht mehr der mächt'gen Geier Fraß“ sein soll. Eine andere Zeile lautet „Wir sind die stärkste der Partei'n“ – was tun, wenn Strache das wahrheitsgemäß mitsingt, fragten sich manche bitter. Andere konstatierten, dass Lieblingsbegriffe der Rechten – Anstand z. B. – von den Linken übernommen werden und umgekehrt.

Auch die Aktion von Okwui Enwezor, dem Kurator der Biennale Venedig, ebendort das gesamte „Kapital“ von Karl Marx vorlesen zu lassen, war ein Beitrag zur Wirksamkeit von Texten. Die Macht eines erklärtermaßen heiligen Textes wird ja noch ganz zentral für die Debatte über Islam und Islamismus werden müssen. „Lies!“, den einsilbigen Slogan, mit dem Salafisten den Koran verteilen, könnte man ja frech in eine aufklärerische Aufforderung zur kritischen Lektüre umdeuten.

„Das Wort sie sollen lassen stahn“ heißt es in „Ein feste Burg ist unser Gott“, dem Lied des Protestantismus, der in Deutschland zwei Jahre vor dem Reformationsjubiläum als Basis des Nationalcharakters debattiert wurde: der Sparsamkeit, aber auch der Hilfsbereitschaft gegenüber Flüchtlingen.

Um Worttreue ging es heuer selbst in Kulturdebatten im engeren Sinn: Darf man, wie heuer in Salzburg, „Fidelio“ ohne Dialoge aufführen? (Man darf, sagen wir, aber man tut's besser nicht.) Und: Wie werktreu muss man Brecht spielen? Der Suhrkamp-Verlag stoppte Castorfs „Baal“-Inszenierung, weil sie fremde Texte enthielt. Brechts Herr K. sagt dazu: „Größere Gebäude kennen sie nicht als solche, die ein einziger zu bauen imstande ist!“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.12.2015)

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