"Making a Murderer": Amerikas Justiz als Rachesystem

Steven Avery Making a Murderer
Steven Avery Making a Murderer(c) Netflix
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Die True-Crime-Serie „Making a Murderer“ über den Mordprozess gegen Steven Avery lässt den Zuseher wütend zurück. Auch das Weiße Haus äußerte sich zu dem Fall.

Wie befriedigend waren Krimiserien früher, bei denen am Ende der wahre Mörder hinter Gittern saß, Recht und Ordnung wieder hergestellt waren! Nicht so in der True-Crime-Serie „Making a Murderer“, die einen echten Kriminalfall zeigt. Deren Ende lässt die Zuseher ungläubig und wütend zurück. Die Netflix-Produktion, die im Dezember mit allen Folgen online gegangen ist, erzählt von der Mordanklage gegen Steven Avery in dem kleinen Ort Manitowoc im US-Bundesstaat Wisconsin. 18 Jahre saß dieser bereits im Gefängnis, verurteilt wegen einer Vergewaltigung, die er nicht begangen hatte, wie ein DNA-Gutachten bewies. Seine Freilassung 2003 löste eine heftige Debatte aus, sogar eine Gesetzesinitiative mit seinem Namen wurde gestartet, um solche Justizirrtümer künftig zu vermeiden. Avery selbst verklagte die Polizei des Bezirks. Just als diese Klage (mit einer Schadenssumme von 36 Millionen Dollar) 2005 anlief, verschwand die junge Fotografin Teresa Halbach. Zuletzt wurde sie bei Avery gesehen, als sie ein zum Verkauf stehendes Auto fotografierte. Die Polizei hat den Schuldigen schnell gefunden. Und schon sitzt Steven Avery wieder auf der Anklagebank.

Die erste Folge von „Making a Murderer“ erzählt die Geschichte der ersten Verurteilung von Avery 1985. Die weiteren neun Folgen rollen den Mordprozess gegen ihn und später auch jenen gegen seinen Neffen Brendan Dassey auf. In beiden Fällen wirken die Ermittlungen höchst einseitig. Als gehe es darum, wie eine Cousine Averys in der Serie argumentiert, ein „unnützes Mitglied der Gesellschaft“ loszuwerden: einen Mann, der in einem vollgeräumten Trailer auf dem familieneigenen Schrottplatz lebt, „White Trash“, wie die Amerikaner sagen.

Mehr als zehn Jahre recherchierten die Filmemacherinnen Laura Ricciardi und Moira Demos den Fall. Aus 700 Stunden Filmmaterial haben sie die zehn einstündigen Folgen der Serie destilliert, mit der Netflix auf den Trend zu True-Crime-Formaten, losgetreten von der Podcast-Serie „The Serial“, aufspringt. Dabei fordert „Making a Murderer“ den Zuseher: Er muss komplexe Sachverhalte ohne viel Erklärung verstehen und die große Ansammlung von Personal – Anwälte, Ermittler, Zeugen sowie den Familienclan Avery – im Überblick behalten. Die Serie bleibt aber spannend wie fiktive Formate.

Beteiligte an dem Fall, vor allem der ehemalige Staatsanwalt Ken Kratz, haben den Filmemacherinnen vorgeworfen, Beweise gegen Avery vorenthalten zu haben und ein einseitiges Bild zu zeigen. Die Serie legt tatsächlich nahe, dass Avery erneut unschuldig im Gefängnis sitzt. Gegen den Vorwurf der Manipulation wehren sich die Filmemacherinnen aber: Keiner der Ankläger und der Familie des Opfers habe sich zu Wort melden wollen.

Onlinehype um die Serie

Insgesamt ließ der Prozess gegen Avery viele Fragen offen, vor allem jene nach dem Motiv. Dieses Fehlen von Antworten löste einen regelrechten Onlinehype aus. Auf einer Vielzahl von Websites, etwa Reddit, spekulieren Zuseher über die „wahre“ Täterschaft. Hacker des Kollektivs Anonymous haben öffentlichkeitswirksam behauptet, Informationen zu haben, die Avery entlasten. Sie ließen aber eine Deadline verstreichen, ohne die angeblich gefundenen Dokumente zu veröffentlichen. Zur Wut auf das Rechtssystem mischt sich Mitgefühl mit Avery – er sei als „White Trash“ Angehöriger einer Minderheit, die ebenso wie Afroamerikaner von der Polizei drangsaliert werde, finden Zuseher.

Eine Onlinepetitionen zwang sogar das Weiße Haus, sich zu dem Fall zu äußern. Das Statement ist für die vielen Zuschauer, die an Averys Unschuld glauben, aber unbefriedigend: US-Präsident Barack Obama habe rein rechtlich nicht die Macht, eine Begnadigung auszusprechen, hat es lediglich geheißen.

Das trägt zu dem Bild bei, das „Making a Murderer“ zeichnet: jenes eines machtvoll hermetischen Rechtssystems. Verstörend ist zudem der in der Serie geweckte Eindruck, es gehe der Justiz nicht darum, den Mörder der jungen Frau zu finden, sondern bloß darum, jemanden möglichst hart zu bestrafen. Diese Rachejustiz ist höchst befremdlich.

>> Die erste Folge von "Making a Murderer" gibt es gratis auf YouTube

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.01.2016)

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