„Marseille“: So funktioniert Politik – eben nicht

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FRANCE-MEDIA-TV-INTERNET-MARSEILLE(c) APA/AFP/BERTRAND LANGLOIS
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Die erste französische Netflix-Eigenproduktion, überzeugt mit tollen Aufnahmen und großartigen Schauspielern – wenn nur die hanebüchene Story nicht wäre.

Irgendwann, im Verlauf der vierten oder fünften Folge, als schon klar ist, dass die Macher der Serie „Marseille“ sich ähnlich brennend für die Mechanismen von Macht und Machterhalt interessieren wie die Schreiber von „Gossip Girl“ für die sozialen Verwerfungen der US-amerikanischen Upperclass, irgendwann also, wenn man ohnehin nicht mehr allzu viel von dieser großmundig angekündigten Netflix-Eigenproduktion erwartet, begibt sich der Vizebürgermeister von Marseille (Benoît Magimel) in eines der von Gangs beherrschten Problemviertel: Dort setzt er sich für alle sichtbar vor einen Dealer-Treff und bespricht mit dem Oberbrutalo der Stadt, der genauso aussieht, wie man sich einen Oberbrutalo vorstellt, und der gern seine Knarre in die tief getragene Unterhose steckt, die nächsten Schachzüge.

Und das soll eine politische Serie sein!

Dabei ist das Thema, mit dem Dan Francks „Marseille“ uns lockt, wirklich spannend: Es geht um einen alten Bürgermeister, dargestellt von Gérard Depardieu, der seit 20 Jahren im Amt ist, und um seinen politischen Ziehsohn (BenoîtMagimel), der ihn beerben soll, doch dann will der Alte nicht weichen. Es geht um teure Immobilien am Hafen, um Stadtentwicklung, um harte Drogen und eine Mafia, die Bauunternehmer abfackelt, weil sie bauen wollen.

Das ist die erste Seltsamkeit: Diese Mafia will unbedingt, dass alles beim Alten bleibt, dass also das Casino nicht errichtet wird, dass keine Luxusmeile am Wasser entsteht, die Großinvestoren anlockt. Sie befürchtet angeblich, die Kontrolle über das Glücksspiel zu verlieren.

Zweite Seltsamkeit: Der Bürgermeister ist zu gut, um wahr zu sein. Depardieu spielt einen Machtmenschen edelsten Zuschnitts, der zwar nach einem Unfall dem Koks verfällt und hin und wieder den Blick senkt, wenn er besser hinschauen sollte, aber alles in allem nur das Wohl der Stadt im Auge hat und nicht etwa deshalb kandidiert, weil er Angst vor dem Verlust der Macht samt zugehörigen Privilegien hat: Nein, er muss Marseille retten. Und zwar vor dem Vizebürgermeister, den er gefördert hat.

Sex als Hauptstrategie

Dieser entpuppt sich, dritte Seltsamkeit, als Hallodri, der praktisch alle strategischen Probleme löst, indem er mit hochrangigen Funktionärinnen schläft, die es hier zuhauf gibt und die ihn darob mit Informationen versorgen oder etwa seinen Parteiausschluss verhindern.

Von der vierten Seltsamkeit wollen wir hier nicht berichten, das wäre gespoilert, jedenfalls gibt es Ende der vierten Folge einen ordentlichen Knall, und aus dem Polit-Thriller wird ein schmieriges Familiendrama. Das ist noch mehr an den Haaren herbeigezogen als Frank Underwoods U-Bahn-Schubserei.

Immerhin: Man schaut Depardieu gern zu, jeder besorgte, jeder verärgerte, jeder nachdenkliche Blick ist ein Treffer. Die Aufnahmen von Marseille überzeugen zumindest jene, die diese Stadt noch nicht persönlich besucht haben. Und Stéphane Caillard spielt die Tochter des Bürgermeisters so furchtlos und unbeschwert, dass man sie sich in eine andere Serie wünschen würde.

Schade um all das Talent und all den Aufwand.

„Marseille“, seit 5. Mai auf Netflix, acht Folgen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.05.2016)

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