Die Quote heiligt alle Rechtsmittel

File photo of convicted murderer Adnan Syed leaving the Baltimore City Circuit Courthouse in Baltimore, Maryland
File photo of convicted murderer Adnan Syed leaving the Baltimore City Circuit Courthouse in Baltimore, MarylandREUTERS
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Der rechtskräftig verurteilte Mörder Adnan Syed erhält dank akribischer journalistischer Recherche einen neuen Prozess. Amerikas Medien wenden sich verstärkt dem Strafwesen zu – mit problematischen Auswirkungen.

Adnan Syed bekommt also eine zweite Chance. Das Urteil, kraft dessen er im Jahr 2000 wegen des Mordes an seiner früheren Freundin Hae Min Lee für den Rest seines Lebens hätte eingesperrt bleiben sollen, ist seit Donnerstag außer Kraft. Ein Richter in Baltimore befand, dass die schweren Versäumnisse von Syeds seinerzeitiger Rechtsanwältin Maria Cristina Gutierrez eine wirksame Strafverteidigung unmöglich gemacht hätten. Gutierrez hatte unter anderem einen Sachverständigen nicht befragt, der die Verlässlichkeit jener Mobilfunkdaten in Zweifel gezogen hätte, aufgrund derer Syed verurteilt worden war. Auch eine Entlastungszeugin Syeds entging der Anwältin. Sie rang während des Prozesses mit multipler Sklerose, ihr körperlicher und geistiger Verfall führte nur ein Jahr später dazu, dass sie ihre Zulassung als Anwältin verlor (im Jahr 2004 starb sie an einem Herzinfarkt).

Was macht die vierte Macht im Staat?

Der Mord an Hae Min Lee, Tochter einer strengen südkoreanischen Einwandererfamilie, schlug damals die Lokalpresse in Baltimore in den Bann. Die Untertöne einer neuzeitlichen Romeo-und-Julia-Tragödie, in der eine junge Liebe an den wertkonservativen Vorstellungen ihrer und der pakistanischen Familie Syeds zerschellte, trugen dazu bei (der Umstand, dass die beiden sich einige Zeit vor Lees Tod im Guten getrennt hatten und das Leben typischer US-Teenager führten, tat diesem Mythos keinen Abbruch).

Landesweit schlug der Fall eineinhalb Jahrzehnte lang keine Wellen. Dann trat eine Familienfreundin der Syeds namens Rabia Chaudry an die Radiojournalistin Sarah Koenig mit der Bitte heran, sich die Angelegenheit genau anzusehen. Koenig, eine erstklassige Reporterin des Radioprogramms „This American Life“, biss an. Sie vertiefte sich in den Fall, sprach mit Freunden, Sachverständigen und Syed in dessen Gefängniszelle. Vor zwei Jahren bereitete sie die Summe ihrer Recherchen unter dem Titel „Serial“ in einer meisterhaften Radioserie auf. Wöchentlich nahm sie ihre Hörer mit auf Recherche, und sie schaffte es, in nüchterner Skepsis weder für noch gegen Syeds Unschuld zu plädieren.

„Serial“ wurde ein Knüller. Mehr als 100 Millionen Mal wurden ihre Folgen im Internet heruntergeladen, der prestigeträchtige Peabody Award für die Veranschaulichung der Mängel in der amerikanischen Strafjustiz wahr hochverdient. Ob Syeds rechtskräftige Verurteilung als Mörder ohne „Serial“ jemals neu aufgerollt worden wäre, wurde sein Anwalt C. Justin Brown am Donnerstag gefragt. „Ich denke nicht“, antwortete er.

Doch der Erfolg der gewissenhaften Journalistin Koenig in der Durchsetzung eines der wichtigsten Prinzipien jedes Rechtsstaates – des Rechts auf eine wirksame Strafverteidigung – darf nicht von dem bedenklichen Wechselspiel zwischen medialer Öffentlichkeit und strafrechtlicher Praxis in den USA ablenken. Denn nicht jeder, dem Unrecht widerfährt, kann sein Los vor dem Schöffengericht der Öffentlichkeit neu verhandeln. Und nicht jedes Urteil, das auf Druck der Medien gefällt wird, ist gerecht.

Diese Mediatisierung der amerikanischen Strafjustiz begann vor zwei Jahrzehnten in einem Gerichtssaal in Los Angeles mit dem Mordprozess gegen den früheren American-Football-Star und Filmschauspieler O. J. Simpson. Gewiss hatten, wie in jeder Gesellschaft, schon zuvor aufsehenerregende Kriminalfälle die Massen erregt; das war 1932 bei der Entführung (und Ermordung) des Babys von Volksheld und Flugpionier Charles Lindbergh schon so, und es trieb Truman Capote dazu, einen Vierfachmord in der Einöde von Kansas in seinem 1965 erschienenen Roman „In Cold Blood“ nachzuzeichnen (Tom Wolfe fand für diesen belletristischen Umgang mit Gewaltverbrechen das ätzende Epitheton „Pornoviolence“).

Mit O. J. brachen die Dämme

Der Simpson-Prozess trieb das öffentliche Interesse an Bluttaten mit Prominentenbezug auf die Spitze (oder, eher, auf einen Tiefpunkt). Erstmals waren Fernsehkameras während der Verhandlung erlaubt, die Kabelkanäle – allen voran CNN – stürzten sich begierig auf diese kostengünstige Form von Live-Unterhaltung. Der Zufall will es, dass seit Kurzem der ausgezeichnete fünfstündige Dokumentarfilm „O. J.: Made in America“ auf dem Sportsender ESPN zu sehen ist. Dessen Regisseur Ezra Edelman zeichnet nach, wie stark die Verteidigung mit den Medien spielte, wie sie Beweismittel manipulierte und ein Bild von Simpson als Opfer weißer Rassisten schuf, das den mehrheitlich schwarzen Geschworenen den Freispruch als Rache für institutionelle Gewalt der mehrheitlich weißen Polizei nahelegte.

Die Strafjustiz ist seither ein Füllhorn reizvoller Storys für Funk und Fernsehen, und bisweilen sind die im aufrichtigen Ethos ernsthafter Dokumentaristen produzierten Ergebnisse am problematischsten. Man denke etwa an „Making a Murderer“, die zehnteilige Netflix-Serie über den verurteilten Mörder Steven Avery. Empörende Schlampereien und Hinterlist der örtlichen Polizei und Staatsanwaltschaft kamen da zutage, doch die Filmemacherinnen unterschlugen mehrere Tatsachen, die Averys Image als einfältiges Justizopfer stark infrage stellen.

Syeds Prozess wird enormes Interesse hervorrufen. Und auch für seine Fürsprecherin Rabia Chaudry fällt etwas ab: Ihr Buch „Adnan's Story“ erscheint im August beim renommierten Verlag St. Martin's Press.

AUF EINEN BLICK

Adnan Syed wurde 2000 wegen des Mordes an seiner Exfreundin Hae Min Lee zu lebenslanger Haft verurteilt. Syed, Sohn einer pakistanischen Einwandererfamilie in Baltimore, beteuerte stets seine Unschuld. Die Radioreporterin Sarah Koenig recherchierte den Fall 2014 im Podcast „Serial“ nach, der rund 100 Millionen Mal heruntergeladen wurde. Das führte nun zu einem neuen Verfahren.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.07.2016)

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