Shitstorms: Auf dem Scheiterhaufen des 21. Jahrhunderts

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Themenbild(c) Die Presse - Clemens Fabry
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Die Masse kann Autoritäten ins Wanken bringen, es kann aber auch jeden Einzelnen treffen. Wer einen Fehler macht oder zu weit von der Norm abweicht, kann leicht zum gnadenlos Gejagten werden. Über die Shitstorm-(Un-)Kultur.

Früher musste man einen Leserbrief verfassen, um seinen Unmut loszuwerden. Heute geht das einfacher, schneller, vor allem effizienter. Denn in den sozialen Medien besitzt die Masse Macht. Sagt der Politiker A etwas Falsches, macht der Konzern B etwas Unanständiges – schon bricht wenig später der Shitstorm los.

Auch Wissenschaftler, Publizisten, ja alle Personen öffentlichen Interesses, erst recht, wenn sie selbst die sozialen Medien bedienen, haben dieses Damoklesschwert nun über sich hängen. Der kleinste Fehltritt – und los geht's. Wobei es freilich Definitionssache ist, was ein Fehlverhalten ist.

Als Richard Dawkins, der britische Evolutionsbiologe und Atheismus-Aktivist, twitterte, „Alle Muslime der Welt haben weniger Nobelpreise als Trinity College Cambridge. Aber im Mittelalter haben sie Großes geleistet“, da ließ der Shitstorm nicht auf sich warten.

Nobelpreisträger im Sturm

Ähnliches widerfuhr seinem Landsmann, dem Nobelpreisträger Tim Hunt, der bei einer als launig angelegten, letztlich aber missglückten Tischrede über „Mädchen im Labor“ gemeint hatte: „Drei Dinge geschehen, wenn sie im Labor sind: Man verliebt sich in sie, sie verlieben sich in einen, und wenn Sie sie kritisieren, weinen sie.“ Dass Hunt, der seine Ehefrau im Labor kennengelernt hatte, auch noch sagte, die Wissenschaft brauche Frauen, diese sollten sich „durch chauvinistische Monster“ wie ihn keinesfalls abhalten lassen, tat dem Shitstorm keinen Abbruch. Hunt verlor seine (Ehren-)Ämter.

Der Shitstorm ist die Rache des kleinen Mannes/der kleinen Frau im Internet an jenen, die einen Namen haben. Begehen diese einen (vermeintlichen) Fehler, kann man sie so leicht ins Wanken bringen. Und sich selbst moralisch erhöhen. Klassenkampf 2.0 sozusagen.

Allerdings: Es kann auch den kleinen Mann oder die kleine Frau selbst treffen. Also jeden. Unbekannte werden auf einmal weltweit bekannt. Gegen ihren Willen. Und zu ihrem eigenen Entsetzen.

Der Afrika-Aids-Tweet

Der wohl bekannteste Fall, weil einer der ersten, der die globale Shitstorm-(Un-)Kultur verdeutlichte, war jener einer PR-Managerin aus New York, die vor ihrem Abflug nach Südafrika twitterte: „Ich fliege nach Afrika. Hoffentlich bekomme ich kein Aids. Nur Spaß. Ich bin ja weiß!“ Noch während sie im Flieger saß, brach ein Shitstorm über sie herein. Nach der Landung war die Welt für sie eine andere geworden. Ein Schwall an Beschimpfungen hatte sich über sie ergossen. Ihren Job war sie auch los.

Die „TAZ“ schrieb damals: „Die Geschichte zeigt in seltener Deutlichkeit: Eine einzige Dummheit im Netz kann ein ganzes Leben ruinieren. Die Art, wie Tausende Menschen über sie herfielen, sie mit Morddrohungen überhäuften, Hasskommentare zu ihren Instagram-Fotos und denen ihrer Kinder posteten, ist verstörend.“

Wer zu sehr von der Norm abweicht, läuft Gefahr auf dem digitalen Scheiterhaufen zu landen. Und diese Norm wird heute nicht mehr durch Anstand und Sitte viktorianischen Zuschnitts definiert, sondern durch die im linken und akademischen Milieu entstandene Political Correctness. Wobei diese Political Correctness, was ihre Spießigkeit, Rigidität, ja Engstirnigkeit betrifft, durchaus wieder an viktorianische Zustände (oder was wir metaphorisch dafür halten) anschließt.

„Lynchjustiz-Mechanismus“

Auch an und für sich vernunftbegabte Menschen können zu Berserkern werden, wenn sie der Shitstorm mitreißt. „Die Primitivität und Aggressivität, mit der Andersmeinende im Internet verfolgt werden, scheint mir denselben psychologischen Mechanismen zu folgen, die früher zu Lynchjustiz und Pogromen führten“, meinte der deutsche Kabarettist Dieter Nuhr, nachdem er selbst Opfer eines Shitstorms geworden war.

Nuhr hatte aus Anlass der Volksabstimmung über den Sparkurs in Griechenland getwittert: „Meine Familie hat demokratisch abgestimmt: Der Hauskredit wird nicht zurückgezahlt. Ein Sieg des Volkswillens!“

Des Kabarettisten Conclusio: Der Shitstorm ist die „Hexenverbrennung des 21. Jahrhunderts“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.10.2016)

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