Das Leben jedes Menschen wiegt gleich schwer

Independent presidential candidate Griss arrives for a rally in Vienna
Independent presidential candidate Griss arrives for a rally in ViennaREUTERS
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Die langjährige OGH-Präsidentin Irmgard Griss erinnert daran, dass kein Leben durch ein anderes oder mehrere andere aufgewogen werden kann.

Ferdinand von Schirach führt uns in seinem Theaterstück ein moralisches Dilemma vor Augen, aus dem es keinen einfachen Ausweg gibt. Das Problem kann nicht demokratisch gelöst werden. Denn das hieße, über das Leben von Menschen abzustimmen und die Mehrheit entscheiden zu lassen. Schirach folgt in seinem Theaterstück einem bekannten Muster. Angehende Juristen müssen sich im Studium mit ähnlichen Fallbeispielen auseinandersetzen. Denn ein moralisches Dilemma zwingt uns, uns darüber klar zu werden, wie weit wir uns bei unseren Entscheidungen von unseren Werten leiten lassen.

Eine solche intensive Auseinandersetzung habe ich 2009 in London erlebt. Als die englische Königin den neuen Supreme Court eröffnete, wünschte sie sich, den Gerichtshof „bei der Arbeit“ zu sehen. Jusstudenten aus ganz England wurden ausgewählt, um in einem Mordprozess als Staatsanwälte und Verteidiger aufzutreten. Angeklagt war eine junge Frau, die den Tod ihres Exfreundes verursacht hatte. Um die Überschwemmung einer Stadt und damit den Tod Tausender zu verhindern, hatte sie den Notfallknopf eines Staudammes gedrückt, damit die Wassermassen in ein Tal geleitet werden, in dem der junge Mann mit seinem Hund spazieren ging. Ankläger und Verteidiger plädierten mit großer Leidenschaft – ihre Argumente machten bewusst, dass es keine fertige Lösung gibt, man sich einer Entscheidung nur schrittweise nähern kann. Erster Schritt muss sein, sich zu fragen, welche Werte uns wirklich wichtig sind. Schon 1811 enthielt unser Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch die Bestimmung wonach jeder Mensch „angeborene, schon durch die Vernunft einleuchtende Rechte“ hat. Das wichtigste ist das Recht auf Leben. Auch bei uns gilt, dass die Würde des Menschen unantastbar ist. Immanuel Kant verdanken wir die Einsicht, dass der Mensch ein „Zweck an sich“ ist und nie Mittel zum Zweck sein darf. Kant leitet die Würde des Menschen daraus ab, dass er ein Vernunftwesen und daher in der Lage ist, eine eigene Moral aufzustellen.


Die Würde des Menschen ist unantastbar. Lassen es diese Überzeugungen und Werte zu, dass 164 Menschen getötet werden, um 70.000 zu retten? Sie werden (auch) sterben, wenn der Terrorist das Flugzeug über dem Stadion zum Absturz bringt. Das scheint den Abschuss zu rechtfertigen. Dagegen spricht, dass jeder von ihnen ein Mensch ist, dessen Würde unantastbar ist, der nie Mittel zum Zweck sein darf.

Die unantastbare Würde jedes Menschen ist die Grundlage unseres Zusammenlebens. Sie schließt es aus, nur einen einzigen Menschen als Mittel zum Zweck zu gebrauchen. Denn das Leben jedes Menschen wiegt gleich schwer. Auch wenn es gegen das Leben einer großen Anzahl von Menschen in die Waagschale geworfen wird, neigt sich die Waage nicht. Leben kann nicht durch Leben aufgewogen werden. Gilt das auch, wenn das Flugzeug schon im Sturzflug ist? Wenn der Tod der Insassen unabwendbar erscheint, die Menschen im Stadion aber noch zu retten wären? Das kann nur jeder nach seinem Gewissen beantworten.


Irmgard Griss (*1946) war bis 2011 Präsidentin des OGH, 2016 unabh. Kandidatin für das Bundespräsidentenamt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.10.2016)

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