Eine Debatte und ihre fatalen Folgen: Warum wir seit Langem mit zweierlei Maß messen

Die Schriftstellerin Kathrin Röggla analysiert, was Ferdinand von Schirach mit seinem Stück "Terror" bezweckt hat. Seine moralische Abwägung ist für sie "ein abstraktes Spiel", das einer Debatte zuarbeitet, die sie nicht begrüßen kann.

Manchmal können Fragestellungen schiefliegen. Die Verengung auf eine moralische Abwägung innerhalb des nicht abreißenden Gegenwartsschrecks, des Terrorismusdiskurses, liegt daneben. Was bildet diese Fragestellung ab? Einen rechtlichen Diskurs? Eine gerichtliche Praxis? Eine moralische Debatte? Eine „literarische“ Stellungnahme zu einem Dilemma, in dem wir uns angeblich andauernd befinden und das aufzuzeigen uns irgendwohin helfen könnte, wo wir noch nicht sind?
Oder ist es die reinste Selbstbestätigung – schwingen wir uns zu kleinen Richtern auf, die wir immer schon waren! Was spräche schon gegen diese kleine Selbstermächtigung innerhalb eines ohnmächtigen Diskurses? Die Entscheidung zwischen den wenigen Menschenleben und den vielen wird doch ohnehin längst andauernd getroffen, so oft, dass es uns gar nicht mehr auffällt. Genauso wie uns das Zusehen beim sogenannten syrischen Drama gar nicht mehr so richtig auffällt, aber das „wir“ ist hier perfide, das gebe ich gern zu, warum gehe ich eigentlich nicht auf die Straße und fordere ein Ende dieses Bombardements? Es ist furchtbar, aber zugegebenermaßen nicht das Thema von Ferdinand von Schirach. Was ist sein Thema? Ich würde sagen, es ist die moralische Zuspitzung, ein unschuldig daherkommendes „Was wäre wenn?“ in einem juristischen Rahmen, der eine politische Debatte sozusagen absichert. Das Grundgesetz, hier haben wir es! Wir sind doch noch ein „wir“, eine Gesellschaft!
Nein, vielleicht gehe ich doch von mir selbst aus, wie ich mich durch Medien und Politik mehr und mehr zu solch merkwürdigen Fragestellungen gedrängt sehe: Freiheit oder Sicherheit und Überwachung, „Grenzen zu!“ oder Terror, territoriale Souveränität oder abstrakter Humanismus? All diese Zuspitzungen und Verengungen sind perfide und halten sich an den Händen.

Maske des Juristischen. Es macht mich nervös, dass immer öfter über Dinge debattiert wird, die in der Verabschiedung der Menschenrechte, der UN-Charta und den Grundgesetzen längst verankert sind. Es macht mich nervös, wenn in der Hierarchie der öffentlich gestellten Fragen die unwahrscheinlichsten, absurdesten ganz oben stehen und dann noch in der objektivistischen Maske des Juristischen, die heute gern im Literaturdiskurs wieder hochgehalten wird, wenn man etwas verbindlich Politisches sagen möchte, vermeintlich ohne politisch zu sein. Mit zweierlei Maß wird seit Langem gemessen, das hat Tradition und besteht fort.
„Mit zweierlei Maß“ lautet auch der Titel eines Buches von Menschenrechtsanwalt Wolfgang Kaleck, der mit seinem Institut ECCHR gegen Folter, Pushback-Aktionen gegen Flüchtlinge, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und deren Aufarbeitung von Argentinien bis in den Kongo zu tun hat. Er erzählte mir von der notwendigen Exemplarität seiner Fälle. Zum Beispiel stünde der derzeitig vor ein Dortmunder Gericht kommende KIK-Fall, der die Mitverantwortlichen bei dem Fabrikbrand eines Zwischenhändlers in Karachi (mit 260 Toten und 32 Verletzten) ausfindig machen möchte, für zahlreiche andere Fälle, die juristisch nicht erzählt werden können. Es ist ein Netzwerk aus Geschichten, das Exempel steht hier für die Masse anderer realer Fälle, die der öffentlichen Verdrängung preisgegeben sind. Sein Bemühen, die Fälle im Bewusstsein der juristischen wie medialen Öffentlichkeit zu halten, ist das absolute Gegenbeispiel zu Schirachs Inszenierung eines fiktiv zugerichteten Prozessablaufs, den es so gar nicht gäbe.
Schirachs moralische Abwägung hat weniger mit der Frage nach dem Wert des Menschen zu tun, sondern sie ist immer schon strukturell eine Beantwortung, und dazu ein ziemlich abstraktes Spiel, das einer Debatte zuarbeitet, die ich nicht begrüßen kann. Manchmal sind ideelle Abstraktionen eben politisch nicht unschuldig. Ihre untergründige Mechanik gilt es zu untersuchen, anstatt ihr einfach aufzusitzen.


Kathrin Röggla (* 1971) ist eine österreichische Autorin. Zuletzt erschienen: „Nachtsendung“ (S. Fischer, 2016.)

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