"Tatort" München: Ein Fall für tausend Wattestäbchen

Tatort
Tatort(c) ORF (Hagen Keller)
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Auf Augenzeugen vertrauen oder doch per Massen-DNA-Test nach Fakten suchen? "Die Wahrheit" zeigt die zähe, aufreibende Seite der Polizeiarbeit. Die echte Münchner Polizei will den Fall via Twitter begleiten.

Unsere Wertung für diesen "Tatort":

4 von 5 Punkten.

Worum geht's in "Die Wahrheit"?

„Männlich, Parka, Kapuze, und grob ist er in diese Richtung abgehauen“ - mehr weiß das Münchner Ermittlerteam vorerst nicht über den Täter, der sich in einer Einkaufsstraße auf den Boden legte, sich von einem Passanten aufhelfen ließ und diesem daraufhin mehrmals mit einem Messer in die Brust stach. Vor der Frau und dem Kind des Opfers – und ohne klares Motiv, wie es scheint. Auf der Suche nach dem Täter und einem Grund für seine Tat stoßen die Ermittler auf allerlei Widersprüche. Die Ehefrau des Ermordeten (Luka Omoto) wünscht sich nicht sehnlicher, als dass der Täter gefunden wird. Doch das will nicht geschehen: Monate vergehen, ohne dass sich eine Spur als die richtige herausstellt . . .

Worum geht's wirklich?

Um die Subjektivität und trügerische Kraft der Wahrnehmung, wie die vielen Zeugenaussagen zeigen: Der eine hat ganz sicher eine braune Jacke gesehen, der andere eine grüne, einer sah ein Baseballcap, ein anderer eine Haube, einer sah vielleicht einen Bart und ein anderer wiederum ist sich ganz sicher, dass es ein südländischer Typ war, der das Opfer erstochen hat. Woran er das erkannt hat? „Am ganzen Bewegungsablauf.“ Es geht auch um die leidige Tatsache, dass der Ermittlerjob nicht immer eine spannende, Action- oder Hirnschmalz-geladene Verbrecherjagd ist, sondern oft auch eine aufreibende, mühselige, zähe Suche nach einer Nadel im Heuhaufen. So lädt die SOKO zum Fall etwa unzählige Männer, die ihren Handydaten zufolge in der Nähe des Tatorts waren, in einen Turnsaal, um mit unzähligen Wattestäbchen unzählige DNA-Proben zu nehmen. Und es geht um einen kleinen Glaubenskrieg zwischen den Ermittlern Franz Leitmayr und Ivo Batic: Der eine will eben auf die vielleicht wertvollen, aber wahrscheinlich unzuverlässigen Angaben der Zeugen bauen, der andere auf die rigorose Faktenanalyse.

Wer ermittelt?

Die Münchner Kommissare Leitmayr (Udo Wachtveitl) und Batic (Miroslav Nemec) gehen also auch in diesem Fall stur ihren eigenen Spuren nach. Während der besonnenere, gewissenhaftere Leitmayr die offizielle Leitung des Falls übertragen bekommt, entwickelt Batic einen fast schon verbissenen – und persönlich motivierten (für die Witwe des Mordopfers hegt er viel Sympathie) – Ehrgeiz, den Täter zu schnappen: „Ich will ihn kriegen, dieses kranke Arschloch!“ Sine ira et studio? Nicht doch! Gleichzeitig scheint er sich gerade in ein Burnout hineinzuarbeiten und wird von Panikattacken geplagt.

Wo hakt's?

Die immer gleichen Bilder und Töne, mit denen Batic' Überarbeitungssymptome (oder ist auch mehr dahinter?) dargestellt werden: Immer wieder läutet der Wecker um sieben Uhr, immer wieder ist er da längst wach, weil er wieder mal nicht schlafen konnte. Die Inszenierung der strapaziösen, wiederholten, lange erfolglosen Ermittlungsarbeit ist hingegen abwechsungsreich und kurzweilig gelöst, trotzdem fehlt es diesem Fall irgendwie an Drive.

Was gefällt?

Dieser „Tatort“ lässt die Zuschauer auch mal im Dunkeln: Die müssen schon mal vor geschlossener Tür auf die Ermittler warten oder versuchen, Laborergebnisse an ihren Blicken abzulesen. Auch stilistisch gefällt der Fall: Die Kamera taucht das Geschehen in kühle Bilder, nimmt auch mal die Perspektive der handelnden Personen ein und stürzt etwa mit dem taumelnden Batic ins grell erleuchtete, nur unscharf zu erkennende Bad, wo ihm Beruhigungsmittel wieder klare Sicht verschaffen. Am allermeisten gefällt aber die Ankündigung der echten Münchner Polizei, die auf Twitter mit launigen Kommentaren über ihre Arbeit regelmäßig für Aufsehen sorgt, den „Tatort“ auf @polizeimuenchen mit Faktenchecks zu begleiten. Das ist gleich doppelt spannend: Denn zum einen hat die Fallanalytikerin im „Tatort“, die den Ermittlern mit psychologischen Überlegungen enorm weiterhilft, in der echten Münchner Polizeistube ein reales Vorbild. Und zum anderen ist auch der „Tatort“-Fall voller Parallelen zu einem wirklichen Münchner Fall: 2013 wurde ein Mann – ebenfalls auf offener Straße, ebenfalls am hellichten Tag – von einem Unbekannten erstochen. Auch damals wurden tausende DNA-Proben überprüft. Den Täter aber fand man bis heute nicht.

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