Erdoğans Rache an intellektuellen Bürgern

Academics lay down their gowns during a protest against the dismissal of academics from universities following a post-coup emergency decree, in the Cebeci campus of Ankara University in Ankara
Academics lay down their gowns during a protest against the dismissal of academics from universities following a post-coup emergency decree, in the Cebeci campus of Ankara University in Ankara(c) REUTERS (UMIT BEKTAS)
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Studenten ohne Professoren, dezimierte Institute: Schon fast 5000 Akademiker wurden seit dem erfolglosen Putschversuch entlassen. Auch Dirigent Ibrahim Yazıcı gehört zu den jüngsten Opfern – er setzt auf „die Kraft des Wartens“.

Ein Witz macht die Runde. Den Anfang verschlucken das Gemurmel der Leute, das Gehupe der Autos, doch bis zur Pointe hat sich der Lärm auf ein Minimum reduziert. „Die Türkei“, ruft der junge Erzähler, „hat die gebildetsten Gefängnisinsassen.“ Nur gedämpftes Lachen in der sonst so ernsten Menge – denn wegen der Insassen sind sie alle hier. Studenten, Professoren und Gewerkschafter haben sich vor der Fakultät der Kommunikationswissenschaften an der Istanbuler Marmara-Universität versammelt. Nahezu jeden Tag finden derzeit solche Proteste vor türkischen Unis statt, werden in sozialen Medien virtuell fortgesetzt, etwa unter dem Hashtag #HocamaDokunma – Hände weg von meinem Professor.

Vor rund zwei Wochen hat Ankara 330 Akademiker suspendiert, per Verordnung mit Gesetzeskraft, was im geltenden Ausnahmezustand möglich ist. Es ist der jüngste Rundumschlag gegen intellektuelle Bürger. Seit dem erfolglosen Putschversuch vergangenen Juli haben über 4800 Akademiker ihre Arbeit verloren oder wurden inhaftiert. Noch nie in der Geschichte der türkischen Republik traf es nach einem Coup so viele Akademiker, Schriftsteller, Künstler, Journalisten.

„Besuch“ vom Kulturministerium

Unter den Künstlern ist etwa der in der Türkei bekannte 46-jährige Dirigent Ibrahim Yazıcı, bis zu seiner Entlassung Leiter des staatlichen Symphonieorchesters in Izmir. Am 2. Februar, erzählt er der „Presse“, seien freundliche Beamte des Kulturministeriums zur Kontrolle zu ihm gekommen. „Das ist an sich ein normaler Vorgang, aber diesmal stellten sie mir Fragen, die fast nichts mit Musik zu tun hatten. Zum Beispiel, ob ich während meiner Ausbildung auch in einer privaten Institution gearbeitet habe, ob ich in meiner Schulzeit im Internat war oder warum ich so viel Musik von zeitgenössischen türkischen Komponisten spiele.“ Ein paar Tage später, am 7. Februar, erfuhr Yazıcı von seiner Entlassung, Freunde hatten seinen Namen in der Spätausgabe der Staatszeitung „Resmî Gazete“ gefunden: auf der Liste jener über 4500 suspendierten staatlichen Angestellten, die angeblich die nationale Sicherheit gefährden. „Ich bin Musiker, ich lebe für die Kunst“, sagt Yazıcı. „Natürlich lese ich auch Zeitungen, informiere mich politisch, poste meine Meinung auf Facebook. Aber sicher habe ich nie Illegales geschrieben.“

Die Regierung argumentiert bei ihrem Vorgehen mit Terrorbekämpfung und -propaganda sowie der Mitgliedschaft in parallelen Staatsstrukturen, die in der Türkei eine lange Geschichte haben. Allerdings begann die Rodung der intellektuellen Wälder bereits vor dem Putschversuch. Als vor einem Jahr über 1000 Wissenschaftler eine Petition für den Frieden in den von Kurden bewohnten Gebieten unterzeichneten, folgten mehrere Festnahmen, etliche Unterzeichner verloren ihren Posten. Die Akademiker kritisierten das brutale Vorgehen der türkischen Streitkräfte gegen die PKK – man nehme zivile Opfer in Kauf. Obwohl sie die PKK nicht verherrlichen, müssen sich die Akademiker nun mit dem Vorwurf der „terroristischen Propaganda“ herumschlagen.

Nach dem Coup hatte die Regierung zunächst die Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen, der hinter dem Putschversuch stehen soll, im Visier – die klandestinen Gülen-Anhänger sind sehr wohl im akademischen Milieu zu finden, dorthin gelangten sie im vergangenen Jahrzehnt mit tatkräftiger Unterstützung der AKP. Anschließend richteten sich die Behörden gegen die säkulare Professorenschaft sowie die Altlinken. Allen gemeinsam ist: Sie kritisieren die autoritäre AKP, die Zuwendung zum Islam, die Abwendung von Europa. Für die Regierung ist das Feindbild allerdings austauschbar: Gülen, der Parallelstaat, die Kurden, die Linken, finstere ausländische Kräfte.

Der Putsch, der islamistische Terror, der aufgeflammte Kurdenkonflikt – all das hat die Regierung spürbar enerviert. Und je mehr die AKP ins Straucheln gerät, desto aggressiver tritt sie auf – und mit eben jenem Hochmut, den sie während ihres kometenhaften Aufstiegs an den säkularen intellektuellen Eliten an der vornehm bewohnten Ägäis-Küste so kritisiert hat. Freilich, die Kluft zwischen urban-intellektuell-westlich einerseits, anatolisch-religiös-traditionell andererseits existiert seit der Republikgründung. Nur hatte bis zum Aufstieg der AKP die erste Gruppe die Zügel in der Hand, den Regierungen haftete viel zu oft der Korruptionsmief an. Nun wird man das Gefühl nicht los, dass sich die islamisch-konservative AKP an den Freigeistern rächt, hat man doch die Einwohner Anatoliens lange genug ignoriert, als hinterwäldlerisch abgestempelt, ihnen den Laizismus aufgezwungen. Präsident Recep Tayyip Erdoğan spricht von „sogenannten Intellektuellen“, und vor dem Feldzug der Partei scheint niemand mehr sicher.

„Die Regierung hält sich die Ohren zu“

„Wir passen auf unsere Lehrer auf“, sagt Studentin Ezgi vor der Marmara-Universität. Sie ist erst 18 Jahre alt, hoch politisiert wie viele in ihrem Alter. Seit Tagen nimmt sie an Demonstrationen teil, deren es viele gibt angesichts des Referendums zur Verfassungsänderung im April. Die AKP will die Präsidialrepublik einführen, ihre Kritiker sehen darin die Eintrittskarte für eine Ein-Mann-Republik. „Wir werden sicher nicht still bleiben“, sagt Ezgi. Kampfbereitschaft liegt in der Luft. Entlassene und diensthabende Professoren stehen nebeneinander, man solidarisiert sich mit den verhafteten Journalisten und Künstlern. Denn am selben Tag findet vor Gericht die Anhörung des investigativen Journalisten und Gülen-Kritikers Ahmet Şık statt.

„Die Regierung hat große Angst, und sie hält sich die Ohren zu – erst recht, wenn man schreit“, sagt Ibrahim Yazıcı. Alle staatlichen Orchester und anderen Institutionen sind ihm nun versperrt, er kann auch nicht im Ausland arbeiten – wie seine Schicksalsgenossen hat man ihm den Pass abgenommen. Auf die Frage, wie er weitermachen werde, sagt Yazıcı dennoch: „Ich bin jetzt sehr ruhig. Ich glaube, wenn es ruhiger ist, fängt die Regierung vielleicht wieder zu denken an.“ Jedes falsche öffentliche Wort kann Menschen wie ihn teuer zu stehen kommen, und so ist vielleicht auch sein nächster Satz erklärlich: „Ich bin sicher, dass meine Entlassung ein Riesenfehler ist, und ich vertraue darauf, dass die Zuständigen das einsehen werden.“ Dann korrigiert er sich ein wenig: „Ich will vertrauen.“ Als Bub habe er Hermann Hesses „Siddharta“ gelesen, erzählt er noch, „das hat mich sehr geprägt. Ich glaube, dass im Warten eine Kraft liegt. Ich warte jetzt darauf, dass das Richtige geschieht.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.02.2017)

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