Serie: Die waidwunde Jugend der Provinz

"Das Verschwinden"
"Das Verschwinden"ARD
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Regisseur Hans-Christian Schmid seziert in der Miniserie „Das Verschwinden“ einen Kriminalfall – und die Lebenssituation junger Leute, die die Enge auf dem Land nicht mehr aushalten. Herausragend: Julia Jentsch als Mutter der Vermissten.

Da steht sie, die Geburtstagstorte mit den flackernden Kerzen in Händen, um ihre Tochter am Arbeitsplatz zu überraschen. Aber Janine ist nicht da. Sie hat ihre Ausbildung ohne Michelles Wissen einfach hingeschmissen – und sie hat es satt, sich vor ihrer Mutter rechtfertigen zu müssen. Kurz darauf ist Janine weg, und Michelle muss erkennen, dass sie vom neuen Leben ihrer Tochter so gut wie nichts wusste. Ihre verzweifelte, bis zur Penetranz hartnäckige Suche nach der Tochter erzeugt ein alles in sich aufsaugendes Vakuum. Doch die Leere lässt sich nicht füllen, sie war schon vor Janines Verschwinden da – seit Michelle den Draht zu ihr verloren hat . . .


Tot oder auf dem Partytrip? Auf den ersten Blick geht es in „Das Verschwinden“ um die Suche nach Janine, die weiß Gott wo sein könnte – auf einem Partytrip im nahen Tschechien, tot oder womöglich durchgebrannt mit dem Crystal Meth, das sie mit ihren beiden Freundinnen Manu und Laura verkauften wollte und das seit ihrem Verschwinden wie vom Erdboden verschluckt ist. Julia Jentsch bietet als kämpferische Michelle eine überragende schauspielerische Leistung: In ihrem Gesicht kann man alle Stadien dieser psychischen Zerreißprobe einer Mutter ablesen, die sich von der Polizei im Stich gelassen, von der Tochter und deren Freunden belogen, von der Verantwortung für Nachzüglerin Evi überfordert fühlt. Die Kamera von Yoshi Heimrath („Die beste aller Welten“) folgt ihr und den anderen oft wie ein Schatten, beobachtet aus halb versteckten Blickwinkeln, lugt hinter Vorhängen hervor. Als Zuschauer ist man dadurch mittendrin in der quälenden Suche, die Stück für Stück immer noch eine Ungeheuerlichkeit, noch eine Lüge zutage fördert.


Im Soziotop der Kleinstadt.
Es ist ein dichter Film, den Regisseur Hans-Christian Schmid da vorlegt. Oder: Es ist eine Serie, die einem vorkommt wie ein dichter Film, weil in den vier eineinhalbstündigen Teilen die Charaktere, das Gefüge der betroffenen Familien und das Soziotop einer ländlichen Kleinstadt differenziert und sensibel herausgearbeitet werden. Und da wären wir bei der Metaebene, die sich in „Das Verschwinden“ über den Kriminalfall und die Leidensgeschichte einer Mutter legt – oder besser: die die Basis für alles Schreckliche ist, das hier passiert.

Fein säuberlich seziert Schmid („Sturm“, „Was bleibt“) in seiner ersten großen Regiearbeit für das Fernsehen und mit durchgehend hervorragenden Schauspielern die Lebenssituation junger Leute, die es in ihrer ländlichen Heimat nicht mehr aushalten: Da ist Janine (Elisa Schlott), deren Mutter im Sorgerechtsstreit um Evi keinen Blick mehr für ihre ältere Tochter hatte. Laura (Saskia Rosendahl) will sich der kleinbürgerlichen Enge des katholischen Elternhauses entziehen, pflegt aber brav die kranke Mutter. Die wohlstandsverwahrloste Manu (Johanna Ingelfinger) hat schon einen Entzug hinter sich – trotzdem halten die Eltern den Anschein (und den Leistungsdruck) aufrecht. Und Tarik (Mehmet Ateşçi), der wegen seines Migrationshintergrunds sowieso als Sündenbock taugt, träumt von einem besseren Leben: „Glaubst du, ich sitze hier noch 30 Jahre und schneide Zwiebeln?“

Diese Jugend ist so waidwund wie das Reh, das ganz am Anfang angeschossen wird und sich verblutend davonschleppt. Sie leidet unter Lieblosigkeit, Frustration, Demütigung und Versagensängsten. Auch wenn es auf den ersten Blick anders aussieht: Nicht die jungen Leute sind verdorben – die dysfunktionalen Familien, die Gesellschaft des Schweigens sind es. „Das Leben macht oft keinen Spaß“, sagt Manus frustrierte Mutter – und bekommt die passende Antwort: „Warum wollt ihr dann, dass wir so werden wie ihr?“

„Das Verschwinden“: 22., 29., 30. und 31. 10., jeweils 21.45 Uhr, im Ersten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.10.2017)

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