Syrien: "Im Krieg ist die Wahrheit das erste Opfer"

(c) REUTERS (ALI JAREKJI)
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Erschreckende Storys aus Kriegsgebieten sind gefragt. Manchmal aber ist ihre Glaubwürdigkeit fraglich. Und angeblich tote Babys erweisen sich als lebendig.

Unschuldige, früh geborene Babys. Gestorben, weil ein Diktator den Strom zu ihren Brutkästen abstellen ließ. Eindrücklicher kann man die Barbarei eines Regimes kaum darstellen. In Syrien sollen über 20 Babys in Krankenhäusern ums Leben gekommen sein. Nur: So dramatisch diese Geschichten sind, so fraglich sind sie auch.

Im August 2011 berichteten zunächst arabische Blogger und Twitter-Nutzer über die Babys aus Hama: Weil das Assad-Regime die Stromversorgung in mehreren Stadtteilen unterbrochen hatte, seien acht Frühchen gestorben. CNN und Agence France Press griffen die Geschichte auf. Als Quelle nannten sie die „Syrian Observatory for Human Rights“ in Großbritannien (siehe Kasten). Doch der Chef des US-Onlinejournals „Electronic Intifada“, Abu Abunimah, wurde misstrauisch. Schließlich hat die syrische „Tote Frühchen“-Story einen berüchtigten Vorgänger: Eine ganz ähnliche Geschichte sorgte 1990, kurz vor dem ersten Irak-Krieg, für empörte Schlagzeilen – nur waren es damals kuwaitische Babys, und der angeblich verantwortliche Übeltäter war Saddam Hussein. Seine Soldaten hätten die Kinder aus ihren Brutkästen gerissen, auf den Boden geschmissen und dort sterben lassen.

Geschichte für den Einmarsch im Irak

Diese Geschichte dient in US-Journalistenschulen heute als Standardbeispiel für Propagandakriegsführung: Sie war frei erfunden – von der Washingtoner PR-Firma Hill & Knowlton, die im Auftrag des kuwaitischen Emirs und mit Unterstützung der ersten Bush-Regierung die Meinung in den USA für einen Einmarsch im Irak manipulieren sollte.

Onlinejournalist Abunimah recherchierte den Fall von Hama nach – und fand heraus, dass zumindest das Foto, das arabische Onlinemedien mit der Geschichte publizierten, keineswegs tote syrische Babys zeigte – sondern lebendige aus Ägypten. Die Geschichte selbst habe große Lücken – so gebe es kein Datum; der Arzt, der die Todesfälle angeblich der „Syrian Observatory“ meldete, bleibe anonym; es werde nicht erklärt, warum das Krankenhaus nicht seine Notstromgeneratoren benutzt habe. „Ist es möglich, dass Babys im Brutkasten zu Schaden gekommen sind?“, fragt Abunimah: „Natürlich, aber es gibt einfach keine Beweise. Diejenigen, die solche Behauptungen aufstellen und sie mit falschen Details und Bildern schmücken, wissen genau, dass solche Geschichten die Gefühle der Leser garantiert anheizen.“ Die „Syrian Observatory“ blieb gegenüber der „Presse“ bei ihrer Darstellung: Einer ihrer Informanten in Hama, ein Arzt, habe die toten Kinder selbst gesehen – und für das Foto könne man nichts.

Im Februar 2012 starben dann angeblich wieder syrische Frühchen in Brutkästen – diesmal war von 18 Kindern in der belagerten Stadt Homs die Rede. Etliche westliche Medien, darunter die BBC, der britische „Independent“ und der Schweizer „Tagesanzeiger“ berichteten – diesmal allerdings nur in Berufung auf nicht näher definierte „Berichte“. Auch „Die Presse“ meldete den Vorfall – mit dem Zusatz, dass der Wahrheitsgehalt solcher Informationen schwer zu prüfen sei.

Diese Einschränkung gilt bei fast allen Meldungen aus dem Konfliktgebiet. So auch bei Berichten über ein Massaker an Zivilisten in Homs am vergangenen Sonntag. Zwischen 46 und 57 Menschen – darunter 28 Kinder – seien gefoltert und umgebracht worden, hieß es in den internationalen Medien unter Berufung auf die „Syrian Observatory“ und Augenzeugen. Doch während die Beobachtungsstelle die regimetreue Shabibha-Miliz für die Bluttat verantwortlich machte, gab die staatliche syrische Nachrichtenagentur Sana „Terroristen“ die Schuld.

Was wirklich passiert ist, können die Redakteure in den Auslandsressorts, tausende Kilometer entfernt, kaum herausfinden. Ihre Arbeit sei „viel schwieriger geworden“, sagt Frank Webster, Soziologe an der Londoner City University und Autor eines Buches namens „Journalisten unter Beschuss. Der Informationskrieg und journalistische Praxis“. Dank neuer Technologien von Smartphones bis Social Media würden die Redaktionen mit Bildern, Filmen und Berichten aus allen möglichen Quellen überschwemmt, Auswahl und Prüfung seien kompliziert. Vor allem wenn, wie in Syrien, die meisten Medien keine eigenen Leute vor Ort hätten und sich auf die Informationen von anderen – Aktivisten, Zivilisten – verlassen müssten. „Der technologische Fortschritt hat die Spielregeln geändert: Es gibt viel mehr Informationen, oft fesselnde Bilder und Berichte. Aber es ist auch viel schwieriger geworden, Wahrheit von Fälschung zu unterscheiden“, sagt Webster.

Viagra für Massenvergewaltigungen?

Manchmal scheinen die Quellen auf den ersten Blick über jeden Verdacht erhaben: Im Frühjahr 2011 berichteten westliche Medien über Massenvergewaltigungen durch Gaddafis Truppen in Libyen. Der Diktator habe seine Soldaten für diesen Zweck sogar mit Viagra versorgt. Quelle der Behauptung: Luis-Moreno Ocampo, Ankläger beim Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Belege lieferte er nicht. Dan Murphy, Arabien-Korrespondent beim amerikanischen „Christian Science Monitor“ war skeptisch: „Ich habe diese Geschichte auch erzählt bekommen, als ich im Februar und März in Libyen war, aber ich konnte nie irgendwas davon verifizieren, also habe ich es nicht berichtet“, schrieb er im Juni 2011. „Ich habe auch schon früher einmal Behauptungen über Massenvergewaltigungen mit dem ein oder anderen Viagra-Detail gehört: vor ungefähr sieben Jahren im Irak. Und davor in Indonesien.“

Doch ist eine Geschichte erstmal im Umlauf, so Soziologe Webster, „entfaltet sie ihre Wirkung, und das lässt sich nicht mehr ändern, auch wenn sie nachher korrigiert wird und vielleicht der Ruf der Quellen ein bisschen beschädigt ist“.

Bestes Beispiel dafür: die angebliche Erschießung eines palästinensischen Jungen durch israelische Soldaten vor laufenden Kameras in Gaza im September 2000. Das Bild des verängstigen Buben neben seinem Vater kurz vor den angeblich tödlichen Schüssen wurde in Dutzenden Zeitungen weltweit gedruckt. Immer noch gilt der Bub, dessen genaue Identität bis heute unklar ist, als Märtyer und Ikone des palästinensischen Widerstandes. Doch die Aufnahmen, die ein palästinensischer Kameramann dem französischen Fernsehsender France2 zulieferte, waren inszeniert – wobei die genauen Umstände bis heute umstritten sind.

„Im Krieg ist die Wahrheit das erste Opfer“, schrieb der griechische Dichter Aischylos vor 3000 Jahren. Daran hat sich nicht viel geändert, meint Webster: „Heutzutage ist es fast wichtiger, den Informationskrieg zu gewinnen als den richtigen Krieg mit Waffen.“

Die Ein-Mann-Agentur

Die „Syrian Observatory for Human Rights“ wurde in den letzten Monaten zu einer der meistzitierten Quellen für Nachrichten aus Syrien. Sie besteht aus einem einzigen Mann: Rami Abdulrahman, der im britischen Coventry sitzt. Er bekommt seine Informationen nach eigenem Bekunden (verifizierbar ist das nicht) von 200 Informanten in Syrien. BBC und CNN reagierten auf eine Anfrage zur ihrer Zusammenarbeit mit der „Observatory“ nicht. Auch die Nachrichtenagentur Reuters lehnte die Bitte nach einem Interview mit einem der zuständigen Redakteure ab.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.03.2012)

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