Literaturnobelpreisträger Günter Grass sieht in weltweit publizierten Versen den Iran als Opfer israelischer Atompolitik. Publizist Broder nennt ihn einen durchgeknallten Antisemiten.
Er trommelt wieder, lauter denn je: der sein Leben lang politisch engagierte Schriftsteller Günter Grass. Manche nahmen an, der Literaturnobelpreisträger würde nach seinem Eingeständnis, dass er in seiner Jugend Mitglied der Waffen-SS war, kleinlaut werden. Sie haben sich getäuscht. Das neue Thema des streitbaren Intellektuellen: der Nahostkonflikt. Das Mittel: die Waffen der Poesie, auch wenn sie ästhetisch etwas stumpf geraten sind. „Was gesagt werden muss“, das sagt der Autor der „Blechtrommel“ nun, und zwar der ganzen Welt. Zeitgleich in vier Zeitungen wurde gestern das Gedicht lanciert: in der „Süddeutschen“, der „New York Times“, in „La Repubblica“ und „El País“.
Darin geht er mit der Atommacht Israel hart ins Gericht. Die Verse sind eine Provokation. Dabei erscheint die lyrische Attacke nicht nur formal ungereimt: In gewundenen Formulierungen windet sich Grass vor allem um sich selbst und sein Schweigen als Deutscher, der, „mit dem nie zu tilgenden Makel behaftet“, stets die Strafe des Antisemitismus-Verdikts zu fürchten habe. Doch in die moralische Nabelschau rührt Grass Vorwürfe, die es in sich haben: Israel gefährde mit seinem Atomwaffenarsenal den Weltfrieden. Jerusalem wird halb unterstellt, es wolle mit einem Erstschlag gegen den Iran nicht nur Atomanlagen treffen, sondern das „iranische Volk auslöschen“.
Kritik von Zentralrat und CDU
Dass der Iran an einer Atombombe baut, wird als „unbewiesen“ infrage gestellt, ungeachtet des starken Verdachts der Atomenergiebehörde. Irans Präsident Ahmadinejad, der Israel von der Landkarte löschen will, wird als „Maulheld“ tendenziell verharmlost. So fallen in der dichterischen Einlassung vor allem die Auslassungen auf: Mögliche Gefahren, die vom Iran ausgehen, kommen nicht zur Sprache.
Grass bettelt damit um die Keule, die er angeblich fürchtet. Der nicht minder provozierfreudige Publizist Henryk M. Broder, der in deutschen Debatten dieser Art nie fehlen darf, erhebt sie als Erster gegen den alternden Dichterfürsten: Er bezeichnet ihn in der „Welt“ als den „Prototypen des gebildeten Antisemiten“. Grass habe „schon immer zum Größenwahn geneigt“, nun aber sei er „vollkommen durchgeknallt“.
Weniger deftig, aber mit deutlichem Kopfschütteln, reagiert das offizielle Deutschland. Die Tatsachen würden verdreht, lautet der Tenor. „Grass ist ein großer Schriftsteller“, sagt der CDU-Außenpolitiker Ruprecht Polenz. Aber in politischen Fragen liege er „meist daneben. Diesmal liegt er gründlich daneben“. Der Zentralrat der Juden spricht von einem „aggressiven Pamphlet der Agitation“. Der Publizist Ralph Giordano gesteht, selten habe ihn „etwas so erschüttert“ wie dieser „Anschlag auf Israels Existenz“. Was aber ist dran an Broders Antisemitismus-Vorwurf? Die zwei ins Treffen geführten Indizien sind eher dünn. Vorigen Sommer rechnete Grass in einem Gespräch mit einem israelischen Journalisten die sechs Millionen im Holocaust ermordeten Juden mit angeblich ebenfalls sechs Millionen von den Russen ermordeten deutschen Kriegsgefangenen auf – ein unglückliches und obendrein falsches Zahlenspiel (tatsächlich waren es gut eine Million).
Das Fabulieren weicht dem Moralisieren
Schwerer wiegt der Verdacht, Grass leugne das Existenzrecht Israels. In einem „Spiegel“-Interview von 2001 bezeichnete er die „Besitznahme palästinensischen Bodens und seine israelische Besiedlung“ als „kriminelle Handlung“. Aus dem Kontext der missverständlichen Formulierung wird aber klar, dass Grass damit nur die aktuelle Siedlungspolitik meinen konnte – er sah seine Kritik als „Freundschaftsbeweis“ gegenüber Israel.
Fest steht: Fabulieren und Moralisieren gingen bei Grass stets ein inniges Bündnis ein. Mit nachlassender dichterischer Schaffenskraft verschoben sich die Gewichte zum politischen Statement. Ob Atomkraft oder „Turbokapitalismus“, Mohammed-Karikaturen oder Merkels Europapolitik – kein Thema ist vor dem öffentlich verkündeten Urteil des Autors mit dem Schnauzbart sicher. Gegenwind ist er gewohnt, vor allem aus der Wendezeit, als er sich gegen die Wiedervereinigung Deutschlands einsetzte. Ein „dritter Weg“ zwischen Kommunismus und Kapitalismus müsse eine Chance bekommen. Und, auch hier wieder, der Holocaust: „Der Ort des Schreckens schließt einen künftigen Einheitsstaat aus.“
In seiner Autobiografie „Beim Häuten der Zwiebel“ unterzog sich Grass einer oft schmerzlichen Selbsterkundung. Warum er sich das alles antue, wurde er damals gefragt. „Weil ich das letzte Wort haben will“, lautete die Antwort. Das mögen nun manche als Drohung empfinden – angesichts einer neuen Schicht Zwiebel in seinem Lebenswerk, die sie eher zum Weinen bringt.
Literaturnobelpreisträger
Günter Grass, geboren 1927 in Danzig, meldete sich als Fünfzehnjähriger freiwillig zur Wehrmacht, kam 1944 zur Waffen-SS. Nach dem Krieg lernte er bei einem Steinmetz, studierte Grafik und Bildhauerei.
„Die Blechtrommel“, sein erster Roman, erschien 1959, Grass übte sich schon darin im „Schreiben gegen das Vergessen“, indem er auch die NS-Zeit behandelte. Es folgten u.a. „Hundejahre“, „Der Butt“ und „Die Rättin“. 2006 erschien das autobiografische „Beim Häuten der Zwiebel“. 1999 erhielt er den Nobelpreis für Literatur.
Die SPD unterstützte Grass in Wahlkämpfen, 1965 publizierte er für Brandt sein „loblied auf willy“, 1982 trat er in die Partei ein. Helmut Kohl warf er „Geschichtsklitterung“ vor, als dieser mit Reagan den Soldatenfriedhof in Bitburg besuchte. Kritisch äußerte sich Grass zur deutschen Wiedervereinigung, etwa im Buch „Ein Schnäppchen namens DDR“.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.04.2012)