Jede Meldung wird in der Türkei notiert

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TURKEY-RIGHTS-MEDIA-POLITICS-DEMO(c) APA/AFP/OZAN KOSE
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Wie verhält man sich gegenüber Journalisten solidarisch, die von der Regierung in Ankara derzeit verfolgt werden? Am besten lässt man sie häufig zu Wort kommen und berichtet auch jenseits der Schlagzeilen über ein Land im Ausnahmezustand.

Es mag eine übertriebene Interpretation gewesen sein, zu behaupten, dass der türkische Staatspräsident, Recep Tayyip Erdoğan, den misslungenen Putschversuch von Militärs Mitte Juli ähnlich wie die Nazis den Brand des Reichstags zum Anlass politischer Säuberungen genommen hat. Doch nach und nach erinnern die Aktionen der Regierung in Ankara tatsächlich an Vorgänge in autoritären Regimen der 1930er-Jahre.

Ausnahmezustand, Massenentlassungen und Verhaftungen von vermeintlichen Anhängern des Predigers Fethullah Gülen, von Offizieren, Beamten und Journalisten sowie zwangsweise Schließungen unliebsamer Medien werden berichtet, schließlich noch die Enteignungen Tausender dem Regime nicht entsprechender Richter. Das erinnert an Sippenhaft. Kommt demnächst sogar eine Welle von Schauprozessen wie einst in Moskau? Und wer wird darüber berichten?

Die Europäische Union und die Nato-Partner der Türkei, die einige diplomatische und wirtschaftliche Möglichkeiten hätten, auf die restriktive Politik Erdoğans zu reagieren, geben sich bisher äußerst zurückhaltend. Man könnte fast von Appeasement sprechen. Aber das sei hier nur am Rande bemerkt. Für Journalisten stellt sich die Frage, wie sie sich solidarisch gegenüber Kollegen verhalten, die von den Machthabern in Ankara verfolgt werden. Der Einfluss der Medien mag zwar beschränkt sein, aber man sollte ihre nachhaltige Wirkung nicht unterschätzen. Nichts fürchten Diktatoren so sehr wie die Wahrheit. Pathetisch gesagt: Das Wort ist auf lange Sicht wirksamer als das Schwert. Deshalb besteht die stärkste Hilfe von Print, Rundfunk und Onlineplattformen ganz einfach darin, nicht nachzulassen, die Vorkommnisse in der Türkei öffentlich zu machen. Journalisten dort wurden gefragt, ob sie erfahren, was derzeit im Ausland über ihr Land berichtet wird. Unisono die Antwort: Jede Meldung wird von ihnen genau notiert. Das sollte unsere Medienmacher wohl dazu ermuntern, möglichst viele der kritischen Stimmen, die das System Erdoğan zum Verstummen bringen will, auch zu Wort kommen zu lassen. Keine Chance für eine Politik der Beschwichtigung, sondern „all the news that's fit to print.“

Wie ermunternd auch kleine Gesten sein können, hat der Mediator als außenpolitischer Redakteur kurz vor dem Zusammenbruch der Sowjetherrschaft in Osteuropa erlebt. Der tschechische Schriftsteller Václav Havel, einer der Begründer der Bürgerrechtsbewegung Charta 77, war vom KP-Regime der CSSR wieder einmal verhaftet worden. Am 16. Januar 1989 war der Jahrestag der Selbstverbrennung von Jan Palach am Wenzelsplatz in Prag begangen worden. (Dieser Student hatte sich 1969 aus Protest gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings durch die Rote Armee das Leben genommen.) Havel wollte an einer Gedenkveranstaltung für Palach teilnehmen, wurde verhaftet und wegen „Rowdytums“ zu neun Monaten verschärfter Haft verurteilt. Weltweit wurde darüber berichtet. Für ein, zwei Tage. Dann gab es andere Neuigkeiten.

In die Redaktion aber kam Besuch, eine junge Dissidentin. Havel gehe es sehr schlecht, erzählte sie. Sie wurde unser Kontakt zu ihm, wir beschlossen, regelmäßig Meldungen über Havel im Knast zu bringen. Bald traf ein Schreiben aus Prag ein. Der Dichter bedankte sich dafür, dass wir ihn nicht vergessen hatten, das hätte ihn aufgemuntert. Im November 1989 erlebte die Tschechoslowakei eine samtene Revolution. Vor Jahresende wurde Havel als Kandidat des Bürgerforums zum Regierungspräsidenten seines befreiten Landes gewählt. Ein Mensch des Wortes.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.07.2016)

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