"Tatort" Köln: Das Mädchen mit den Kunstfingernägeln

Tatort: Kartenhaus
Tatort: KartenhausWDR/Thomas Kost
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Ballauf und Schenk nehmen es im Fall "Kartenhaus" mit zwei jungen Menschen auf, die ihrem Leben Sinn geben wollen. Ein Köln-"Tatort" mit Potenzial, das sich erst recht spät entfalten darf.

Unsere Wertung für diese "Tatort":

2,5 von 5 Punkten. (Spezialkategorie - Schlusszene: 5 von 5 Punkten.)

Worum geht's?

Ein junger Mann (Rick Okon als Adrian) tötet einen älteren Mann (Klaus Hartmann) mit einem Küchenmesser. Der Tote ist der Stiefvater von Laura (Ruby O. Fee), der Freundin von Adrian; das Paar setzt sich ab. Um an Geld für ihr Leben im Untergrund zu kommen, bricht Adrian bei seinem alten Boss ein. Als der ihn entdeckt, erschießt ihn Adrian. Zwei Leichen gibt es also, und einen Täter, Mitte 20, aus einer Kölner Hochhaussiedlung.

Worum geht's wirklich?

Um Träume, ums Lügen, darum, Sachen besser - oder zumindest anders - zu machen als die eigene Familie. Adrian tötet aus Liebe zu seiner 17-jährigen Freundin. Die sagt nämlich, dass ihr Stiefvater sie vergewaltigt habe. Fast wirkt es so, als ob Adrian sich mit Laura eine eigene, sichere Welt aufbauen will: Er selbst kommt aus schwer zerrütteten Familienverhältnissen, mit einer alleinerziehenden Mutter (Bettina Stucky), einem toten Vater und einem toten Bruder. Und auch Laura hat Interesse daran, ihre eigene Welt zu kreieren - selbst wenn ihre Herkunft, eine moderne Villa am Stadtrand, ganz anders ist als die ihres Freundes.

Wer ermittelt?

Die Kriminalhauptkommissare Max Ballauf (Klaus J. Behrendt) und Freddy Schenk (Dietmar Bär) sind zwar wie immer nüchtern und sympathisch. Sie bleiben aber in "Kartenhaus" lange Zeit (vielleicht zu lange Zeit) recht dezent im Hintergrund. Ihr Assistent Tobias Reisser (Patrick Abozen) darf in diesem Fall hingegen aus dem Büro ausrücken und tut das auf "Tatort"-untypische Art: nämlich nicht als der selbstsichere Macker (und in diese Kategorie fallen ja auch Ballauf und Schenk), sondern als Mensch mit Ängsten und Unsicherheiten.

Was gefällt?

Die Perlenohrringidylle der ersten Szene wird innerhalb weniger Sekunden zum absoluten Horror, in dem sich alles dreht, einem schwindlig wird vor Schmerz und dazu WDR Klassik läuft. Das ist fesselnd. Der Bruch hin zum Hochhauspark ist drastisch, aber bildstark. Was vielleicht als Klischeedarstellung sozialer Unterschiede geplant war, klappt nicht so ganz - und das ist gut so. Die Mutter von Adrian, die mit ihrem Sohn in der riesigen Hochhaussiedlung wohnt, ist ganz Mensch, verkommt trotz ihrer Gehhilfe, ihrer Kippen, ihrem Polstermöbelwohnzimmer, ihrer Sturheit nicht zur Witzfigur. Sie stellt die richtigen Fragen; ihre Klappe ist groß, aber sie ist echt. Im Gegensatz zu den Fingernägeln der 17-jährigen Freundin ihres Sohnes. Laura und Adrian sind ein echtes Plastikpaar. Das Bonnie-und-Clyde-Gespann gibt eine richtig mickrige Figur ab - passend zu Kunstnägeln, unmodischen hochhackigen Schuhen, Silberkettchen. Es ist immer interessant, wenn man beim "Tatort" Jugendliche realitätsnah abbilden will. Lauras Mutter ist aus Marmor, oder nein: aus Beton. Und warum sie erst so spät befragt wird, bleibt ein Rätsel.

Woran hakt's?

Die schönen Bilder (und der Sommer! Wie groß wird die Lust auf Sommer in Köln bei diesem "Tatort") machen die ersten Minuten des Falls noch ganz erträglich, irgendwann sehnt man sich aber dann doch nach Handlung, Erklärungen. Lange stille Szenen, wenige Schlüsse: Der bildschöne "Tatort" scheitert daran, einen mitzureißen (was sehr, sehr schade ist, denn die Schlussszene gehört zum Besten, was in der letzten Zeit beim "Tatort" passiert ist). Nach einer knappen halben Stunde gibt es zwar zwei Tote - und einen Täter - aber warum, weiß man nicht so recht. "Und warum tust du sowas?", fragt auch Adrians Mutter ihren Sohn zur selben Zeit. Ein "Tatort" mit Potenzial, das er nicht entfalten darf: Auch das Thema Vergewaltigung und das Sprechen darüber wird großteils ausgespart. Bezeichnender Dialog dazu: "Der Typ hat dich vergewaltigt, was hätte ich denn machen sollen? Einfach so tun, als wäre nichts passiert?", fragt Adrian seine Freundin. Und sie nickt.

Was nervt?

Laura ist schwer zu ertragen: Sie steht kurz davor, ihren 18. Geburtstag zu feiern. Die "Tatort"-Macher zeichnen sie abwechselnd als selbstbewusste Sexversessene und als ein nach Aufmerksamkeit heischendes Kleinkind. Beim Sex im Auto gibt es ihr den Kick, mit der Waffe auf Menschen zu zielen; in der nächsten Szene kriegt sie mit großen Kulleraugen gerade mal ein "Waaahs maaahen wia jehz" über die Schlauchbootlippen. Weniger Charaktertiefe geht wohl nicht.

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