Theater an der Wien: Die Überirdischen haben abgedankt

THEATER AN DER WIEN: 'IPHIGENIE EN AULIDE'
THEATER AN DER WIEN: 'IPHIGENIE EN AULIDE'APA/ARMIN BARDEL/THEATER AN DER
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Thorsten Fischer deutet Christoph Willibald Glucks „Iphigénie en Aulide“ als Kriegsdrama im Betonbunker, mit Bo Skovhus als gequältem Agamemnon.

Krieg!“ leuchtet es grell von der Videowand, in riesigen Lettern und vielen Sprachen, mit lateinischen, griechischen, arabischen Schriftzeichen. Unter der Führung von Agamemnon soll es gegen Troja gehen, wohin seine Schwägerin entführt wurde, die schöne Helena. In der Hafenstadt Aulis aber, wo sich die Streitmächte des Landes zur Einschiffung sammeln, macht sich Prahler Agamemnon eines Frevels schuldig und erlegt eine heilige Hirschkuh der Artemis: Eine Flaute ist die göttliche Strafe, die nur durch das Opfer von Agamemnons Tochter Iphigenie aufgehoben werden könne, so der Orakelspruch.

Dergleichen mythische Ereignisse und Beweggründe sowie gestörte Befindlichkeiten der Olympier, die den Menschen als Spielball höherer Mächte zeigen und damit auch entschuldigen könnten, erlaubt Regisseur Thorsten Fischer nicht, weder den Protagonisten noch den Zuschauern. Seine Inszenierung von Glucks 1774 in Paris erhebliches Aufsehen erregender Oper „Iphigénie en Aulide“ spielt im Hier und Heute und hebt mit einer stummen Szene an: Ein junger Mann löst sich aus der manipulierbaren Volksmasse (der Schoenberg Chor singt und agiert wieder tadellos), will der Kriegstreiberei ein gewaltsames Ende setzen, doch sein Attentat auf Agamemnon wird mit einem Todesschuss vereitelt. Eine namenlose Frau, wortlos, aber eindringlich verkörpert von Anna Franziska Srna, beweint den Toten.

Wohllautend: Myrtó Papatanasiu

Die wehklagende Einleitung der Ouvertüre beginnt. Die Frau wandelt sich in der Folge zu einer Art Projektion jener Artemis (Diane im Libretto), die sich Agamemnon so leichtfertig zur Feindin gemacht hat. Den Tod der Iphigénie scheint Calchas als Symbol für die Opferbereitschaft bis zur höchsten Ebene zu fordern: Pavel Kudinov, mit Priesterkollar, dunkler Brille, im Rollstuhl, macht den blinden Seher mit markantem Bass zu einem Bruder von Verdis Großinquisitor.

Die Wiener Symphoniker lassen sich von dem feinsinnigen Alessandro De Marchi offenbar gern und mit Fortune an ein historischen Gegebenheiten nachempfundenes Klangbild heranführen, das von federndem Elan und einer Prise Prunk, noch stärker aber von elegisch-noblen Bläsersoli (Oboe, Klarinetten!) und stellenweise bewusst fahl eingefärbten Streicherklängen charakterisiert wird. Bei den Innsbrucker Festwochen der Alten Musik bevorzugt De Marchi als künstlerischer Leiter strichlose Aufführungen, hier ist er Pragmatiker, strafft die Partitur leicht, verzichtet aufs Ballett. Dennoch mag im Graben, vor lauter Dienst am Wort, den Gluck leisten wollte, etwas zu viel Zurückhaltung walten: Der Strudel der Emotionen wird mehr von den nicht in erster Linie der Schönheit, sondern zum Teil nolens volens der Wahrhaftigkeit verpflichteten Sängern angetrieben. Diese wissen mit der französischen Diktion nicht durchwegs so souverän umzugehen wie Paul Groves als tatkräftiger Offizier Achille, der dafür bei einigen exponierten Phrasen eine gewisse Mühe nicht verbergen kann.

Bei Mühen muss freilich zuvörderst Bo Skovhus genannt werden, der keinen Zweifel daran lässt, dass dieser Oberbefehlshaber Agamemnon ein Getriebener ist. Seine glücklosen Versuche, das grässliche Opfer zu umgehen, sein verschwitztes Ringen um Contenance, die Panik – sie bilden sich in seinem dort und da geradezu gequält anmutenden Gesang auf quasi naturalistische, aber eindringliche Weise ab. Eine monströse Erdölraffinerie, die von seinem Hauptquartier aus sichtbar ist und beim fast unausgesetzten Rotieren des bunkerartigen Bühnenbilds (Vasilis Triantafillopoulos) neben Videowand und verspiegelter Durchgangshalle immer wieder auftaucht, suggeriert unmissverständlich, dass es auch bei diesem Krieg in Wahrheit um Ressourcen geht.

Deshalb lässt er sich auch nicht vom händeringenden Flehen der Clytemnestre erweichen, welcher Michelle Breedt passend mütterlich exaltierten Nach-, fast Überdruck verleiht. Iphigénie will schließlich sogar den Tod: Myrtò Papatanasiu steigert sich trotz etwas kühlen, in der Höhe leicht harten Klangs zu wohllautend klarem, ausdrucksvollem Gesang. Zuletzt darf sie die versöhnlichen Worte der Göttin singen und ungehindert abgehen, während sich – naturgemäß misstraut Fischer dem ins Glückliche verbogenen Opernende – die phantomhafte Diane opfert, sie führt Agamemnons Hand mit dem Messer gegen sich: Ein Bild dafür, dass die überirdischen Mächte abgedankt haben, weil sie von den Menschen gemeuchelt, aus ihrem Weltbild verbannt wurden?

Spiegel, Drehbühne, eine stumme Rolle: Thorsten Fischer schafft szenische Leitmotive bei seinem Gluck-Zyklus im Theater an der Wien (mit „Iphigénie en Tauride“, „Telemaco“). Er bringt auch Neues ein, etwa die Videos von David Haneke, die etwas schematisch geraten und zwischen Großaufnahmen der zerfurchten Gesichter der Protagonisten und von Soldaten (Revolutionären?) beiderlei Geschlechts wechseln. Für seine düstere, mehr von solider, konsequenter Arbeit als von mitreißender Inspiration getragene Inszenierung gab es nach der Premiere Buhs, die Sänger wurden gefeiert.

Live auf Ö1 heute, Samstag, 19 Uhr; Vorstellungen noch bis 22. 11.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.11.2012)

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