„In Agonie“: Das Wort wird bei Kušej Programm

In Agonie
In Agonie(c) APA/THOMAS AURIN (THOMAS AURIN)
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Martin Kušej hat Dramen von Miroslav Krleža ausgegraben und zur Trilogie geformt. Viel riskiert, viel verloren: Die Inszenierung ist anfangs Seifenoperette, in der Mitte stark, am Ende quälend.

Die Exhumierung fast vergessener Stücke ist heikel, vor allem, wenn sie gut gemeint ist. Oft gibt es berechtigte Gründe dafür, dass sie auf dem Friedhof der Literatur liegen, selbst wenn sie von einem in Kroatien weithin berühmten Dichter wie Miroslav Krleža (1893–1981) geschrieben wurden. Regisseur Martin Kušej, er leitet derzeit das Münchener Residenztheater, hat sich von solchen Bedenken nicht einschüchtern lassen, nahm aus einer losen Trilogie zwei vom Zeitgeist geprägte Dramen, fügte ihnen ein fremdes Mittelstück hinzu und präsentierte das Ganze (in der Übersetzung Milo Dors) als sechsstündiges Gastspiel bei den Wiener Festwochen.

In dieser Form wurde am Donnerstag eine Art Uraufführung am Volkstheater zelebriert, aber das Wagnis ist trotz einiger exzellenter Schauspieler missglückt. Ein dekadenter Beginn unmittelbar vor, ein expressionistischer Anfall im, ein ernüchternder Abgesang nach dem Ersten Weltkrieg ergeben eine bizarre Mischung, die vor allem zeigt: 1914 war in Zagreb nicht mehr viel im Lot, aber 1916 wurde es in Europa dramatisch schlimmer, und 1922 waren die Wunden längst noch nicht verheilt. Das erfährt man erst in Form eines Gesellschaftsdramas, dann in realistischer Übertreibung und schließlich im überdehnten Kammerspiel.

Glücksritter in einer Möbellandschaft

Das schwächste Glied der Kette ist der Beginn. Die weite, mit roten Wänden umrandete Bühne ist mit Sitzgruppen voll gestellt. In dieser Möbellandschaft einer Zagreber Familie („Die Glembays“) tummeln sich die Personen wie versprengte Glücksritter. Sie betrachten ein Ölbild. Oft aber kosten sie die Distanz aus, auf Kosten der Verständlichkeit.

Wir schreiben den 2. August 1914, der Donner grollt, er mischt sich mit der drohenden Musik Bert Wredes. Ein verlorener Sohn, Leo Glembay, von Johannes Zirner brillant gespielt, ist nach vielen Jahren heimgekehrt. Dieser Künstler deckt zynisch auf, was alles faul ist im Hause, seit seine Mutter gestorben ist. Die Stiefmutter hat es mit fast allen getrieben, auch mit ihm, als er noch sehr jung war. Der Vater ist ein böser Kapitalist, die übrige Verwandtschaft verkommen.

Bei den Glembays ist es offensichtlich üblich, dass man Selbstmord begeht oder andere in ihn treibt. Der schärfste Bock von allen: ein Geistlicher. An ihm begeht Leo bewusst einen Eklat, der zu Tod und Mord führt. Das Lügengebäude kracht zusammen, inklusive Bankrott. Es geht zu wie in einer Telenovela, allerdings nicht so raffiniert. Mit der Psychologie Tschechows hält der Text bei Weitem nicht mit. Ermüdend wirkt bald, dass die Personen stets ihre Motive erklären, statt sie einfach sichtbar zu machen. Jedes Klischee wird ausgekostet. Meist steht etwa anklagend eine weiß gekleidete Nonne herum. Die Reine unter den Sündern? Schwester Angelica wird schließlich vorgeworfen, dass sie es mit einem Kardinal Montenuovo treibe. Gelächter im Publikum. Jetzt fehlt nur noch eine intensive Andeutung, die Kušej prompt liefert, obwohl der Text sie nicht erfordert. Schon küsst der wirre Schwager die unkeusche Schwester.

Selbstverständlich wirft sich die Stiefmutter als frische Witwe auf den Leichnam des aufgebahrten Glembay und würgt ihn, weil er auch ihr Geld gestohlen hat. Da kann es nur einen Schluss geben: Der Stiefsohn sticht sie (unter Erheiterung mancher Zuseher) ab, rechtzeitig, bevor hinkend ein Jurist auftritt und schreit: „Es gibt Krieg!“

Schwule Offiziere unter Kinderleichen

Dieser entwickelt sich dann auf der Bühne im Drama „Galizien“ prächtig. Es stünde besser für sich allein da. Die Aufführung hat alle Ingredienzien, die für diesen im Aktionstheater sehr sicheren Regisseur typisch sind. 31.Oktober1916, Reformationstag. Wir befinden uns an der Ostfront, in einer requirierten Volksschule, einer Ruine. Die Bühne wurde von Annette Murschetz zugemüllt mit nassen Dokumenten, Kinderleichen, die ohne ersichtlichen Grund herumgetragen werden, einer Wanne samt nacktem Offizier. Und irgendwo scheint auch schon wieder das Telefon der Glembays zu läuten.

Was macht man so im Krieg, in der Etappe? Man wird zum Tier. Am besten kann das Norman Hacker spielen. Er ist Oberleutnant Walter, der Star in dieser intensiven Choreografie des Todes. Wenn nicht gerade ein Fähnrich entblößt auf dem Herrn reitet, lässt Walter arme alte Frauen aufhängen, bedroht die eigene Truppe mit dem Erschießen oder trinkt sich die Birne weg. Diese Männer würden als dreckiges Dutzend fast in Hollywood-Reißer passen. Tristesse pur: Wenn die Tote am Seil baumelt, das bis zum Schnürboden reicht, gießt es in Strömen, dann glaubt man fast, dass Kadett Horvat weint, einer der wenigen Soldaten, die noch Reste von Humanität besitzen. Shenja Lacher gibt diesen Verzweifelten mit Herzblut.

Was für ein Gegensatz zu ihm ist die Gesellschaft der Offiziere, die im dritten Akt bei Tisch sitzen. Sie reden von Ehre, Anstand und Strategie, während einer von ihnen am Rande mit einer beiläufigen Dame kopuliert. Alle saufen, einige sogar (und das ist der Gipfel der Verkommenheit) Rotwein aus der Flasche! Solche Kreaturen verdienen den Tod. Dieser kommt in Gestalt des Erniedrigten und Beleidigten, den die Herren exekutieren wollen. Auch das zynisch inszenierte finale Feuergefecht trägt Elemente von Heiterkeit. Dieses Intermezzo ist passabel gelungen.

Der Baron träumt von verlorener Ehre

Schwer hat es zum Abschluss, es geht gegen Mitternacht, das Quartett, das die Nachbetrachtung zum Krieg anstellt, in weißem, kahlem Set. Das alte Telefon ist das auffälligste Requisit. „In Agonie“ spielt am 2.April 1922, kurz bevor der Faschismus in Europa zu wuchern beginnt. Sophie von Kessel gibt so wie in den zwei Dramen zuvor mit Hingabe eine leichtlebige Adelige. Britta Hammelstein, die zu Beginn die Nonne spielt, ist auch als niedere Adelige mit einem verkrachten Offizier als Mann vor allem vor sich hin leidend. Baron Lenbach spielt und trinkt und träumt von verlorener Ehre. (Götz Schulte macht das gut.) Ihr Liebhaber wird nach dem Exit des Gatten auch nicht besser sein. Markus Hering spielt diesen Aufsteiger voller Nuancen. Er rettet das in die Länge gezogene Finale vor zu viel Fadesse.

Fürs Ganze aber gilt die Casino-Regel: Wer viel riskiert, verliert meist auch viel.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.05.2013)

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