Pop

2013: Die Abrechnung des Feuilletons

Spring Breakers
Spring Breakers(c) Constantin
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Wir rechnen ab. Wer oder was uns im ablaufenden Jahr begeisterte, überzeugte, enttäuschte. Die Jahreswertung der Feuilletonredaktion, diesmal mit der neuen Sparte „Graphic Novel“ und sogar einem kirchlichen Oberhaupt.

Film

GOLD: „Pain & Gain" von Michael Bay, Harmony Korines „Spring Breakers": Pop goes the world! Die USA feiern ihre Apokalypse als Party.

SILBER: Ulrich Seidls „Paradies: Glaube" und „Paradies: Hoffnung": meisterhafter Mittelteil und unerwartete Coda der Großtrilogie.

BRONZE: „Gravity" von Alfonso Cuarón: Überleben im Weltall als digitales (3-D-)Meisterstück - Realismus dank purer Künstlichkeit.

SCHROTT: „Man of Steel" von Zack Synder: Der Tiefpunkt humorloser Blockbuster-Action - selbst Superman ist jetzt ein Griesgram.

URGESTEIN: Claude Lanzmann: „Der Letzte der Ungerechten". Der große französische Dokumentarist setzt Benjamin Murmelstein ein Denkmal - und sich selbst gleich auch.

Arcade Fire
Arcade Fire(c) EPA (BRITTA PEDERSEN)

Pop

GOLD: Arcade Fire. Orpheus und Eurydike, Existenz und Ewigkeit: Die kluge Band aus Kanada hat mit „Reflektor" ein großes Konzeptalbum veröffentlicht.

SILBER: Daft Punk. Wenn schon Retro, dann gleich: Wer konnte sich dem hedonistischen Disco-Glamour von „Get Lucky" entziehen?

BRONZE: King Krule. Das raue Leben in Londons grauen Vorstädten, geschildert zu Dubstep, Punk und argem Jazz.

SCHROTT: Die Abrissbirne im plumpen Video zu „Wrecking Ball" von Miley Cyrus. Das Lied war gar nicht so schlecht.

URGESTEIN: David Bowie. Ja, er ist noch immer ein Berliner. Das Comeback des Jahres: nach Mitte und Schöneberg, melancholisch.

Igor Levit
Igor Levit(c) imago stock&people (imago stock&people)

Klassik

GOLD: Igor Levit, blutjunger Pianist, schließt mit seinen Beethoven-Interpretationen (im Wiener Musikverein und auf CD bei Sony) an große Vorbilder an (siehe „Urgestein").

SILBER: Frank Peter Zimmermann, Franz Welser-Möst und die Philharmoniker spielten Alban Berg „ganz einfach schön"!

BRONZE: Thomas Daniel Schlee komponierte ein faszinierendes Orgelkonzert: eine spannende Uraufführung im Musikverein.

SCHROTT: Sinnlose Zollvorschriften auf internationalen Flughäfen machen Streichern das Künstlerleben unmöglich.

URGESTEIN: Menahem Pressler (90), legendärer Pianist des Beaux Arts Trio, spielte im Konzerthaus herzerwärmend Schubert.

Anna Netrebko in Eugen Onegin
Anna Netrebko in Eugen Onegin(c) Staatoper (Michael Poehn)

Oper

GOLD: „Eugen Onegin" in der Staatsoper. Anna Netrebko macht jeden Abend spannend. Wenn Kollegen wie Dmitri Hvorostovsky und Andris Nelsons dabei sind, wird es ein Fest.

SILBER: Kinderoper. Nicht im Zelt, sondern endlich dort, wo es sein soll, im Opernhaus selbst, buhlt man richtig um Nachwuchs.

BRONZE: Bernd Bienert realisiert mit seinem Teatro barocco in Stift Altenburg zur Sommerzeit „Oper pur" nach altem Muster.

SCHROTT: Die Buhrufe, mit denen das Publikum der Mailänder Scala den großen Piotr Beczala bedachte.

URGESTEIN: Otto Schenk revitalisiert seine Staatsopernproduktionen, und „Fidelio" sieht beim 222. Mal wieder aus wie neu.

''Jägerstätter'' in er Josefstadt
''Jägerstätter'' in er Josefstadt(c) APA (HANS KLAUS TECHT)

Theater

GOLD: „Jägerstätter". Felix Mitterer gelang ein großer Wurf für die Josefstadt. Dieses Anti-Nazi-Volksstück ist lebendig und wahrhaftig in Stephanie Mohrs Inszenierung.

SILBER: „Mutter Courage". Das Burgtheater versucht sich mit Gewinn an Bertolt Brecht. David Bösch hat dieses Lehrstück belebt.

BRONZE: „Thalerhof" von Andrzej Stasiuk (Regie: Anna Badora) im Grazer Schauspielhaus: farbig-spannendes Historiendrama.

SCHROTT: „Catch Me If You Can", plattes Filmremake, Kammerspiele. Werner Sobotka inszeniert oft, aber zu einförmig schrill.

URGESTEIN: Peter Turrini hat bei „Aus Liebe" wieder seine Pranke gezeigt - ein Axtmörder irrt durch die Josefstadt.

Bildende Kunst

GOLD: Lucian Freud im Kunsthistorischen Museum. Ein gewaltiges Ausstellungserlebnis, das auch die historische Malerei in der Gemäldegalerie rundum wachküsst.

SILBER: Die Retrospektiven zweier Unterschätzter, ex aequo: Kiki Kogelnik (Kunsthalle Krems), Meret Oppenheim (BA-Kunstforum).

BRONZE: Gelatin im 21er Haus, Wiens einzigem Raum für Großinstallationen. Gelatin hat ihn kongenial gefüllt und wieder abgetragen.

SCHROTT: „And Material and Money and Crisis" im Mumok, perfekte Illustration zum heurigen Bestseller „Kunst hassen".

URGESTEIN: Kunstkammer im Kunsthistorischen Museum: glänzend inszenierte Wiedereröffnung nach ewiger Schließzeit.

Janus
Janus(c) ORF

Fernsehen

GOLD: „Janus", die ORF-Miniserien-Innovation der Jungautoren Jacob Groll und Sarah Wassermair: bis zuletzt unvorhersehbar und trotz US-Inspiration sehr österreichisch.

SILBER: Ausgezeichnete Serien, endlich bei uns: „House of Cards", „Homeland" (Staffel eins!), „Breaking Bad", „Masters of Sex".

BRONZE: „Wahlfahrt", Politikertalk im rollenden Studio: Hanno Settele reiste in Cowboystiefeln mit Spitzenkandidaten durchs Land.

SCHROTT: „Am Anfang war das Licht", die ORF-Pseudodoku war selbst für ORF-General Wrabetz „inhaltlicher Schwachsinn".

URGESTEIN: „Dallas", Wiedersehen mit dem genialen Ekel J. R.: Larry Hagman hatte seinen letzten großen Auftritt.

Terézia Mora
Terézia Mora(c) EPA (ARNE DEDERT)

Literatur

GOLD: „Das Ungeheuer" von Terézia Mora, der düstere zweite Band einer Trilogie der in Berlin lebenden Ungarin. Eine höllische Fahrt ins Ungewisse, in den Osten!

SILBER: „Der bleiche König", ein unvollendeter Roman von David Foster Wallace, treibt auch auf Deutsch die Sprache an die Grenze.

BRONZE: Brigitte Kronauer wurde mit „Gewäsch und Gewimmel" wie zu erwarten ein Liebling des Feuilletons. Lesen als Therapie.

SCHROTT: Softpornos von Amateuren, Quereinsteiger bei Krimis, Tiere als Protagonisten von Romanen.

URGESTEIN: Friederike Mayröcker spielte für uns „études" - ihr Sprachzauber zwischen Lyrik und Prosa ist gewohnt phänomenal.

Markus Hinterhäuser
Markus Hinterhäuser(c) APA (HERBERT NEUBAUER)

Kulturpolitik

GOLD: Markus Hinterhäuser wird erst Festwochen-, dann Salzburger-Festspiele-Chef: Herz, Hirn, Einfallsreichtum ersetzen Beliebigkeit und verbale Rundumschläge. Fein!

SILBER: Der Wien-Museum-Neubau am Karlsplatz wurde entschieden. Wenn er jetzt noch realisiert wird, winkt die Goldmedaille.

BRONZE: Anna Badora, die Chefin des Grazer Schauspielhauses, vielfältig fantasievoll, übernimmt 2015 Wiens Volkstheater. Freude!

SCHROTT: Subventionserhöhung für die Vereinigten Bühnen Wien: Noch mehr Geld für schlechte, schlecht ausgelastete Musicals.

URGESTEIN: Helga Rabl-Stadler, kluge Salzburger Festspielpräsidentin unter sechs Intendanten, bleibt bis 2017. Gut!

Selbstporträt von Mahler
Selbstporträt von Mahler

Graphic Novel

GOLD: Nicolas Mahler: Der Wiener Minimalismusmeister im Comic-Schaffensrausch: gezeichnete „Gedichte", „Der Mann ohne Eigenschaften", Ausstellung in Krems u. v. m.

SILBER: „Kurt Schwitters" von Lars Fiske und Steffen Kvernelands „Munch": Originelle und geniale Künstlercomics aus Norwegen.

BRONZE: „Jimmy Corrigan" von Chris Ware: Die Tragödie des „klügsten Jungen der Welt" als Comicgegenstück zum modernen Roman.

SCHROTT: „Pablo" von Birmant und Oubrerie:
Picasso in Paris als Poesiealbum ohne Charakter: die Antithese zu den Norwegern.

URGESTEIN: Robert Crumb. Famose Neueditionen des schamlosen Satiregenies, von Autobiografischem wie Literarischem („Kafka").

Papst Franziskus
Papst Franziskus(c) REUTERS (TONY GENTILE)

Debatte

GOLD: Papst Franziskus rief in seinem ersten Amtsjahr wiederholt zu mehr Gerechtigkeit auf, zum Kampf gegen Korruption und soziale Ausgrenzung. Revolution von oben!

SILBER: Historiker Christopher Clark weiß in „Die Schlafwandler", wer schuld sei am Ersten Weltkrieg. Alle. Auf zur nächsten Runde!

BRONZE: „Ich" war Thema beim Philosophicum Lech. Wie autonom sind wir wirklich? Das Thema wird bleiben.

SCHROTT: Prohibition für die Prostitution? Alice Schwarzer will wie in Frankreich und Schweden das älteste Gewerbe verbieten.

URGESTEIN: „Österreich II", erneuert: Hugo Portischs TV-Klassiker lädt wieder zur frischen Reflexion der Zweiten Republik ein.

Neandertaler
Neandertaler(c) REUTERS (NIKOLA SOLIC)

Wissenschaft

GOLD: Sex. Das sibirische Denisova war ein früher Schmelztiegel von vier Gruppen von Menschen: H. sapiens, Neandertalern, Denisovanern und Unbekannten. Sie mischten sich.

SILBER: Schlaf. Das alte Rätsel, warum wir schlafen, ist gelöst: Im Schlaf wird der Müll entsorgt, den das wache Gehirn produziert.

BRONZE: Organe aus der Petrischale. Aus Stammzellen wurden erstmals kleine Lebern und Gehirnregionen gezogen.

SCHROTT: Curiosity. Der Marsrover hat nichts gefunden, obendrein ein besonderes Nichts: kein Methan. D. h.: Der Mars hat kein Leben.

URGESTEIN: Peter Higgs. Für sein 1964 postuliertes Teilchen bekam er mit einiger Verspätung heuer den Physiknobelpreis.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.12.2013)

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