„Drei Protestprotze um eine stille, schöne Frau“

'68 UNTER BESCHUSS. Historiker und Journalist Götz Aly wirft den Exrebellen Verklärung und Lebenslügen vor.

Die Presse: Die Kritik an '68 in Ihrem jüngsten Buch „Unser Kampf“ bezieht sich fast nur auf deutsche Ereignisse. Wie weit ist Ihr Befund überhaupt für Österreich interessant?

Götz Aly: In Österreich entwickelte sich nur eine homöopathische Version von '68. Einmal handelt es sich um ein katholisches Land. Im Protestantismus sitzt mehr himmelstürmender weltlicher Utopismus, das zeigte sich schon 1932 und 1933: Protestanten wählten Hitler doppelt so häufig wie Katholiken. Zum anderen hatte Österreich im staatlichen und gesellschaftlichen Verständnis der ersten Nachkriegsjahrzehnte den Zweiten Weltkrieg nicht verloren, sondern verstand sich als das erste Opfer der deutschen Aggression. Anders als ihre westdeutschen Altersgenossen mussten die jungen Österreicher ihren Eltern nicht vorhalten: „Ihr habt das gewusst!“ Österreich erlebte 1968 einen sozialdemokratisch begleiteten Modernisierungsschub, keine wilden Demonstrationen mit Toten, keine Professorenflucht, keine harschen Staatsreaktionen und später keinen Terrorismus. Ich war selbst vor einigen Jahren Gastprofessor in Wien, der Unterschied zwischen deutschen und österreichischen Studenten ist heute noch stark. Ich habe anfangs versucht, die Herr-Professor-Anrede abzustellen, nach vier Tagen gab ich auf.

Auch viele Deutsche haben die 68er-Revolution so moderat mitgemacht.

Götz Aly: Die Behauptung, das Radikale sei nur ein Auswuchs gewesen, weise ich zurück. Das Ausmaß kann man an den Auflagen der Mao-Tse-tung-, Guerillakriegs- und Revolutionselogen ablesen, die sofort Auflagen von 100.000 oder 150.000 Exemplaren erzielten. Diejenigen, die sich heute milde an '68 erinnern, spalten diese gewalttätigen, totalitären Seiten ab und sagen, wir hörten andere Musik, pfiffen uns gelegentlich Drogen ein, veranstalteten sexuelle Lockerungsübungen und wollten das Land demokratisieren. Von all dem kann am Rand die Rede sein. Liest man heute beispielsweise die Texte von Rudi Dutschke, wird selbst der schwelgerischste 68er das als schwere Zumutung empfinden. Die Revolte richtete sich gegen den Liberalismus, verschrieb sich rasch dem Freund-Feind-Denken, verlor sich im antiparlamentarischen Doktrinarismus und in Gewalt. Die Liberalen und damit potenziellen Vermittler, die schon als Reformer am Werk waren, wurden an die Wand gedrückt. Das war der Sündenfall der deutschen 68er.

Sie beschreiben im Buch kurz sehr beklemmend das verklemmte, autoritäre Klima der Gesellschaft in den 60er-Jahren. Wie passt das zum Fazit, dass die Revolution unnütz war?

Götz Aly: Österreich erschütterte '68 nur schwach, die Schweiz oder Schweden überhaupt nicht, Großbritannien kaum. Die Leute dort sind deswegen nicht verklemmter, obrigkeitsfixierter oder autoritärer als heutige Deutsche. Die in der DDR aufgewachsene Angela Merkel ist nicht weniger emanzipiert als eine westdeutsche Feministin. Weltweit setzten sich in den industrialisierten Gesellschaften flachere Hierarchien, Gleichberechtigung der Frauen, Formen gesellschaftlicher Partizipation durch, mit und ohne '68. Im Übrigen war die deutsche Revolte eine sehr männliche Veranstaltung, das zeigen die Fotos: Drei Protestprotze gestikulieren um eine meist stille, schöne Frau.

Wäre die Welt, oder zumindest Deutschland, in Ihren Augen denn ohne '68 heute besser?

Götz Aly: Das ist eine für den Historiker illegitime Frage. '68 war eben. Natürlich ändert ein Sturm die Situation. Aber man kann nicht behaupten, dass die Änderungen ohne den Sturm nicht eingetreten wären. Ich betrachte '68 als Teil einer deutschen Krise, einer positiven, zur Reform tendierenden, die schon in den frühen 60er-Jahren begann. Die Erstarrung Europas und der Welt nach dem Zweiten Weltkrieg war wohl unvermeidlich. Die Welt musste in eine Art therapeutisches Koma verfallen. Das Erwachen daraus verlief naturgemäß ungemütlich. Doch deswegen haben die Studenten, die aufgrund ihres Alters und ihrer sozialen Privilegien am wildesten reagierten, noch keine besonderen Verdienste.

Sie sehen Parallelen zwischen NS-Bewegung und '68, wie die Verwendung des Wortes „Bewegung“. Da könnte man auch die Umweltbewegung der NS-Nähe verdächtigen.

Götz Aly: Die Mobilisierungsmethoden des NS-Studentenbunds der Jahre 1926 bis 1932 ähnelten denen der deutschen 68er erstaunlich. Mussten die jungen Deutschen 1968 unbedingt „das System“ bekämpfen? Mussten sie Springer-Zeitungen öffentlich verbrennen? Musste Dutschke von „Machtergreifung“ sprechen? Als Historiker bekomme ich heute fast immer Beifall, wenn ich sage, die Deutsche Bank, ein Fußballverein oder die Berliner Stadtverwaltung sollten sich mit ihrer nazistischen Vorgeschichte auseinandersetzen. Doch wenn ich sage, gucken wir uns an, worin sich zwei deutsche Studentengenerationen ähneln könnten, reagieren dieselben Leute wie jeder Spießer und kreischen: Ich nicht, die andern! Viele Alt-68er haben sich einen besonders unangenehmen Zug bewahrt: die Einbildung, sie gehörten zum besseren Teil der Menschheit. Im Übrigen fühlten sich die Zeitgenossen, die nach 1945 aus dem Exil in die Bundesrepublik zurückgekommen waren, 1968 rasch an die nationalrevolutionären Studenten der letzten Weimarer Jahre erinnert.

Ihr Buch war für die stolzen Erben der 68er starker Tobak, da ist von Parasitenstolz und Erbschleichern die Rede... Was hatten Sie sich eigentlich von diesem Angriff erhofft?

Götz Aly: Einen gewissen antiautoritären, provokatorischen Effekt, in bester 68er-Tradition. Es geht darum, klarzumachen, dass die einstigen Gegner der 68er, die damals so bezeichneten „Scheißliberalen“, viel intelligentere, langfristig wirksamere Ideen vertraten als die Revoltierenden. Und darum, die von den einstigen Akteuren erzählten vergangenheitsseligen Legenden und Lebenslügen zu verabschieden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.04.2008)

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