Frie Leysen: „Theater ist kein Entertainment“

Frie Leysen
Frie Leysen(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Leysen, Schauspieldirektorin der Wiener Festwochen, erzählt von heurigen Schwerpunkten wie über die Dauer von Zeit, den Tod, Kolonialismus und warum Genets „Die Neger“ so heißen müssen

Die Wiener Festwochen werben heuer mit Herz und Hirn auf einem Teller fertig zum Verspeisen. Herz und Hirn sind auch Wiener Spezialitäten. Essen Sie Herz und Hirn?

Frie Leysen: Ich bin Vegetarierin. Aber da ist kein großes Prinzip dabei. Ich finde Fleisch einfach nicht lecker.

Welche existenziellen Fragen werden heuer bei den Festwochen verhandelt?

Ich bin keine Freundin von Motti. Ich sehe mich als Festivalmacherin und nicht als Kuratorin, eher als eine Art Antenne. Wir müssen schauen, was liegt in der Luft, was beschäftigt die Künstler? Und am Ende erscheinen dann die Themen. Das ist, wie wenn sich das Meer zurückzieht, erst dann kann man die Linien sehen, die im Sand übrig bleiben.

Zum Beispiel heuer bei den Festwochen? In „Die Kiste im Baumstamm“ von Kuro Tanino versteckt sich ein junger Mann nach einer Standpauke seines Vaters in einem Wandschrank. Vielleicht hat er Burn-out?

Nein, das ist kein Burnout. Das ist eine Flucht weg von der Realität in eine eigene Phantasiewelt.

Worum geht es bei Tsai Ming-liang und Claude Régy?

Bei Tsai Ming-liang mit „Der Mönch aus der Tang-Dynastie“ und „Intérieur“ von Claude Régy geht es um Langsamkeit, sich Zeit zu nehmen für die Innenschau, gegen das Tac-Tac, den schnellen Rhythmus unseres Lebens. Ein weiteres Festwochen-Thema  ist das Verhältnis von Leben und Tod in verschiedenen Kulturen: Asien oder Europa gehen ganz unterschiedlich damit um.

Wie sehen Sie diese Diskussion über Jean Genets „Die Neger“, das auf Facebook und von Vereinen als rassistisch bezeichnet wurde, obwohl sich das Stück gegen Rassismus richtet und „Les Nègres“ heißt.

Ich heiße Frie, das ist mein Name und daran lässt sich nichts ändern. Ich finde es schade, dass man nicht wartet, bis die Arbeit von Johan Simons fertig ist, bevor man sie kritisiert. Theater ist kein Entertainment. Wir sind nicht dazu da dem Publikum zu gefallen, sondern um Tabus auf den Tisch zu legen, über Dinge zu sprechen, über die unsere Gesellschaft am liebsten nicht spricht. Theater ist ein Störfaktor,  der die Leute mit einem freundlichen Elektroschock aus ihrer gemütlichen Sicherheit herausreißen soll. Ausserdem glaube ich, dass wir auch heute noch eine unglaublich rassistische Gesellschaft sind.

Wo sehen Sie das?

Frie Leysen: Schauen Sie, wie in Europa der Nationalismus Furore macht und die Rechtsparteien Auftrieb haben. Schauen Sie in ihr Nachbarland, mit dem sie eine langjährige gemeinsame Historie verbindet und wie sich dort die Gesetzgebung der letzten Jahre gegen Roma und Sinti oder andere Minderheiten richtet.

Viele junge Leute scheinen sich über die Grenzen von Nation und Hautfarbe hinweg heute besser zu verstehen als früher.

Ich hoffe, dass das so ist, wie Sie sagen. Aber: Warten wir mal ab, wie das wird, wenn es zum Beispiel um die Arbeitsplätze geht und wer die Leitungsfunktionen in unserer Gesellschaft übernimmt. In vielen Ländern Europas sind mehr als 50% der unter 30jährigen arbeitslos, die zehren gerade das Erbe ihrer Eltern auf, zahlen aber nicht weiter in die Sozialsysteme ein, das hat eine ziemliche Sprengkraft. Oder nehmen sie das schlechte Gewissen in Frankreich oder Belgien bezüglich des Kolonialismus.  Im Kongo herrscht seit Jahrzehnten Bürgerkrieg und wir haben alle damit zu tun. Ohne das Coltan der Minen aus dem Kongo keine Smartphones! Brett Bailey und Fabrizio Cassol zeigen eine unglaubliche Arbeit darüber bei den Festwochen: „Macbeth“ - in diesem Shakespeare-Stück finden Sie alles, was heute im Kongo geschieht: Mord, Machtmissbrauch, Gier, Ausbeutung, Gewalt. Wir haben als Europäer eine Verantwortung: Wie gehen wir um mit der Vergangenheit – und was heißt das für die Zukunft?

Wie hat sich das Theater verändert?

Das Wichtigste, finde ich, ist, dass es die Aufteilung in Genres nicht mehr gibt. In deutschsprachigen Ländern wird das Theater abseits des klassischen Schauspiels und Sprechtheaters noch immer marginalisiert, was ich schade finde, weil es sehr wichtig ist, dass wir diese Mischformen haben: Theater, Tanz, Musik, die Künstler mischen alle Medien. William Kentridge zum Beispiel macht Zeichnungen, Theater, inszeniert Opern.

Mir kommt vor, dass die Festwochen seit heuer mehr ein Musik- als ein Theaterfestival sind, was mit der Person des Intendanten Markus Hinterhäuser zu tun hat, der Pianist und Musikexperte ist.

Vielleicht haben Sie recht, aber das war nicht Absicht, sondern das liegt auch daran, dass viele Künstler, Theatermacher nach einem Gesamtkunstwerk streben, nach der Verbindung der verschiedenen Disziplinen. Bei der Aufhebung der Genre-Grenzen spielt auch die Technologie eine Rolle: Ein Film hat früher Millionen gekostet. Jetzt gewinnen etwa die Brüder Park Chan-wook and Park Chan-kyong mit ihrem Film Nightfishing, der komplett mit Handykameras gedreht wurde, einen Goldenen Bären in Berlin.

Markus Hinterhäuser gilt als urbaner Mensch. Trotzdem verliert er schon die zweite Schauspieldirektorin nach Shermin Langhoff, die nicht nach Wien kam, sondern das Berliner Gorki-Theater übernahm, Sie, die nach einem statt nach drei Jahren wieder abgeht. Haben die Wiener Festwochen doch nicht so eine große Bedeutung?

Doch. Die Wiener Festwochen sind eines der größten und reichsten Festivals in Europa. Was mein Gehen betrifft, haben wir vereinbart, dass ich vor Ablauf der heurigen Festwochen nicht über meinen Abgang spreche.

Was empfehlen Sie aus dem heurigen Programm?

Alles! Und im speziellen das Festwochen-Zentrum, das es zum ersten Mal gibt.

Kann Kunst die Welt ändern?

Das muss sie nicht. Man kann das nicht messen. Man kann die Leute zählen, aber was die einzelnen Individuen für eine Erfahrung bei einer Aufführung gemacht haben, das kann man nicht wissen.

Wie läuft der Kartenvorverkauf?

Ich hatte Angst, ich dachte, wir haben nicht die großen Namen wie früher, weil mir geht es nicht um die großen Künstler von heute, sondern jene von morgen. Der Verkauf ist um 20 Prozent besser als letztes Jahr um diese Zeit. Die Wiener sind ein neugieriges Publikum.

Belgien mit seiner Hauptstadt Brüssel als Sitz der EU ist selbst kein tolles Beispiel für Integration – mit seiner Rechtspartei Vlaams Belang und den Konflikten zwischen Flamen und Wallonen.

Es ist grotesk. Aber es gibt in Europa einen immer stärker werdenden Separatismus: Schauen Sie sich die Schotten und die Engländer an. In Belgien sind das alte Fronten, die von den Politikern aufrecht erhalten werden. Der große Teil der Bevölkerung will damit nichts mehr zu tun haben. Ich selbst bin zweisprachig. Ich habe 1992 das Kunstenfestivaldesarts gegründet mit Subventionen beider Gemeinschaften für ein gemischtes Publikum. Das Gefährliche, finde ich, an der Gesellschaft generell, ist der Egoismus, wenn es keine Solidarität mehr gibt.

Warum sind Sie nicht Künstlerin geworden?

Weil ich das nicht bin. Als Programmmacherin bin ich in erster Linie Publikum. Ich arbeite mit öffentlichen Geldern, für diese habe ich eine Verantwortung. Ich lade ein, was ich wichtig finde. Das ist mein Job. Ich lebe jetzt in Wien. Ich versuche Gruppen oder Künstler einzuladen, die dem Publikum das bieten, was unterm Jahr fehlt.

Was machen Sie privat so?

Eine Trennung zwischen Arbeit und Privatleben gibt es für mich nicht. Die meiste Zeit bin ich unterwegs. Wenn ich nach Hause komme, wartet auch dort die ganze Welt auf mich. Ich sammle alte Globen.

SCHAUSPIELCHEFIN FÜR EIN JAHR

Die Belgierin Frie Leysen (*1950) zählt zu den renommiertesten Kuratorinnen des freien Theaters, gründete in Brüssel 1992 das „Kunstenfestivaldesarts“, programmierte 2010 das „Theater der Welt“ in Mülheim/Essen, 2012 „Foreign Affaires“ in Berlin.

In Wien sprang sie als Schauspielchefin der Festwochen für Shermin Langhoff ein, die ihren Job für 2014 bis 2016 gar nicht erst antrat. Nach nur einem Jahr geht auch Leysen – im Einvernehmen, heißt es.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.05.2014)

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