Vater-Tochter-Inzest: „Fleisch von meinem Fleisch“

(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Legionen von Mädchen haben gelitten, ohne dass ein Gesetz ihnen half. Über die (verlorene) Allmacht des „pater familias“.

Nein, es sind nicht nur die Männer die Bösen. Man braucht sich nur die in den letzten drei Jahren ans Licht gekommenen Kinder-Martyrien anzuschauen. Es war eine Frau, die in Linz sieben Jahre lang ihre drei Töchter in der Wohnung gefangen hielt, sie inmitten von Exkrementen hausen ließ, unterernährt, wie Wilde, ohne Tageslicht, ohne Wasser. Es war eine Frau, die auf einem Bauernhof in der Nähe von Augsburg ebenfalls sieben Jahre lang, seit der Geburt, ihre uneheliche Tochter versteckt hielt, das Mädchen war unterernährt, aber die Rinder der Frau waren gut versorgt. Wohlgenährt war auch die Katze des Ehepaares in Hamburg-Jensfeld, das seine Tochter Jessica so lang eingesperrt hielt und quälte, bis sie verlernte zu sprechen, zu laufen, eigenständig auf die Toilette zu gehen, bis sie weniger als zehn Kilo wog, mit knapp acht Jahren am eigenen Erbrochenen erstickte.

Das Einsperren und Quälen von Kindern hat kein Geschlecht, auch das Weghören und Wegschauen nicht. Aber wo immer sich in der Familie zu Unterdrückung und Folter der sexuelle Missbrauch gesellt, ob mit oder ohne Inzest, sind Männer die Haupttäter, Mädchen und Frauen die häufigsten Opfer. Sind diese Männer Monster? Wenn Josef F. eine „schwere Persönlichkeitsstörung“ attestiert wird, ist das zwar für die „Normalmenschen“ eine angenehme Entlastung, zugleich aber auch eine kollektive Verdrängung. Vergessen wird, dass fast die gesamte Menschheitsgeschichte lang in allen Teilen der Welt Väter ungestraft sexuelle Fantasien, Machtgelüste und Sadismen an Töchtern (oder Stief- oder Schwiegertöchtern) ausleben konnten – im Namen der patria potestas, der fast unumschränkten Gewalt über die eigene Familie. In Josef F. verkörpert sich eine der verbrecherischsten Institutionen der Geschichte – das schon ganz verdrängt geglaubte patriarchalische Familienoberhaupt.

„Pater familias“ – geht man an die etymologischen Wurzeln (pä = „herrschen“, „famulus“ = Diener), ist der römische Familienvater nichts anderes als der Herrscher über seine Diener. Seine Macht gipfelt im Recht über alle Frauen des Hauses, ob Sklavinnen oder Verwandte. Auch im alten China konnte der Vater mit seinen Kindern machen, was er wollte, sie verkaufen, verpfänden, schlagen, unter Umständen töten. Bei einigen Völkern nahmen die Väter das „ius primae noctis“, das Recht der ersten Nacht, für ihre Töchter in Anspruch, anderswo waren es Priester oder die älteren Männer des Stammes, alles im Grunde Repräsentanten väterlicher Autorität.

Wenn das „Recht“ zum Vater-Tochter-Inzest beschnitten wurde, dann nicht, um das machtlose Opfer zu schützen, sondern aus Gründen der Stammes-, Gesellschafts- und Familienpolitik. Die Kirche stellte im Mittelalter strenge Beschränkungen für das Heiraten zwischen Verwandten (auch Nicht-Blutsverwandten) auf, es ging nicht um Moral, sondern um Macht. Die Päpste selbst hielten sich zum Teil nicht daran.

Wie viele Töchter wurden schon von ihren Vätern zum Inzest gezwungen? Eines der wenigen bekannten Opfer war die italienische Patrizierin Beatrice Cenci. Ihr Vater Francesco Cenci war für sexuelle Gewalttätigkeiten bekannt, blieb aber als reicher, einflussreicher Bürger ungestraft. Er missbrauchte und misshandelte seine Tochter, gemeinsam mit ihrer Stiefmutter, ihren Brüdern und zwei weiteren Helfern ermordete sie schließlich ihren Vater – und wurde 1599 deswegen hingerichtet. Im 19. Jahrhundert schrieb die englische Schriftstellerin und „Frankenstein“-Schöpferin Mary Shelley darüber eine Erzählung („Mathilda“), vertraute das Werk ihrem Vater an, der fand es „widerlich“ und ließ es unveröffentlicht.

Beatrice Cenci ist eine Ausnahme unter den zahl- und namenlosen Opfern. Nur antike Mythen, mittelalterliche Romane, Grimms Märchen, von „Allerleirauh“ bis „Quedlein das Hündchen“, sind voll von Vätern, die ihre Töchter vergewaltigen, ihnen nachstellen, den Freiern schier unlösbare Aufgaben stellen, um die Tochter für sich zu behalten. Es gibt sogar „Schneewittchen“-Versionen, wo die Heldin vor dem zudringlichen Vater flieht. Alle diese Geschichten erzählen von älter werdenden Männern, die ihre Frau verlieren und Ersatz suchen, die Entmachtung durch junge Männer fürchten.

Zwei österreichische Psychoanalytiker, Freud und Otto Rank, haben als erste entdeckt, dass die Literatur über ein Thema Aufschluss geben konnte, das die Wissenschaft nicht angepackt, die Geschichtsschreibung ausgeklammert hatte. Der 1884 in Wien geborene, 1939 im New Yorker Exil verstorbene Rank verfasste ein bis heute grundlegendes Buch über „Das Inzest-Motiv in Dichtung und Sage“. In der Literatur würden Fantasiebildungen, ob Vater-Tochter- oder Mutter-Sohn-Inzest, vom Mann ausgehen, stellte er fest, immer gehe es darum, die männlichen Sexualwünsche zu befriedigen und zu rechtfertigen. Selbst dort, wo die Leidenschaft scheinbar von der Tochter ausgehe, handle es sich nur darum, die Schuld vom Mann abzuwälzen.

Ist es also Zufall, dass der berühmteste Fall, ja der „Urmythos“ vom Vater-Tochter-Inzest, die biblische Geschichte von Lot und seinen Töchtern ist? Die Mädchen sind es, die den Vater betrunken machen und ihn so zum Inzest verführen (um mangels Männern für Nachkommenschaft zu sorgen). Generationen großer Maler haben sich an dem Stoff delektiert, dem potenten Vater und den (aus Sicht des begehrlichen Mannes gezeichneten) verführerischen Töchtern.

Auf jedes Mädchen, das vom Vater missbraucht werde, kämen viele, die in einer verdeckt inzestuösen Familie aufgewachsen sind, meint die Inzestforscherin Judith Herman („Father-Daughter-Incest“). Auch Otto Rank zählt in der Literatur zahllose Beispiele von „verdecktem“ Inzest auf – kein Wunder in einer Gesellschaft, in der die „Blutschande“ immer mehr tabuisiert wurde. Noch im 19. Jahrhundert, wo man endlich begann, die Opfer zu sehen, den Vater-Tochter-Inzest als „Missbrauch“ (der elterlichen Autorität) zu ahnden, warnten Juristen und Politiker davor, familiären Inzest zu streng zu verfolgen – der Moral zuliebe: Man wollte die Aufmerksamkeit der Gesellschaft nicht auf dieses Phänomen lenken.

Deswegen stammt die ehrlichste Figur des inzestuösen Vaters in der Literatur vom Tabubrecher Marquis de Sade. In „Eugénie de Franval“ lässt er den narzisstischen Vater argumentieren, es sei „absurd“, dass er sich von der Tochter fernhalten solle. Sie ähnle ihm, sei Fleisch von seinem Fleisch und somit das Begehrenswerteste, das es für ihn geben könne. Inzest als natürliches Phänomen? Auch Freud sah das so: Nicht der Inzest, sondern das Inzest-Tabu bedürfe einer Begründung. Die Josef F.s waren immer Legion, sie sind nicht einfach Psychopathen – das ist das Erschreckendste an ihnen. Und das Einsperren im Keller, das in den Missbrauchs- und Inzestfällen von Dutroux über Kampusch bis Amstetten das Martyrium der Opfer potenziert, hat bei aller Schrecklichkeit auch etwas Beruhigendes. Es ist die letzte Zuflucht des vom Gesetz kastrierten, um seine Allmacht betrogenen Mannes.

MÄNNLICHE TÄTER. Weibliche Helferinnen.

Lydia G. aus Coulommes bei Paris, deren wenige Tage nach dem Schock von Amstetten bekannt gewordenes Schicksal derzeit Frankreich erschüttert, wurde 28 Jahre lang von ihrem Adoptivvater gequält, hatte mit ihm sechs Kinder – die Behörden ignorierten ihre Hilferufe. Und die eigene Mutter? Sah bei mehreren Vergewaltigungen zu.

Auch Dutroux hatte eine Helferin, sie brachte den Mädchen, die der belgische Kinderschänder für seine Kunden in einem Keller festhielt, das Essen.

Typisch männlich ist die Verbindung von Gewalt und Technik. Täter wie Priklopil und Josef F. finden in raffinierten technischen Lösungen eine zusätzliche Befriedigung.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.05.2008)

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