Alain Platel: „Ich mag scheue Tänzer“

PK: IMPULSTANZ - VIENNA INTERNATIONAL DANCE FESTIVAL 2014: PLATEL
PK: IMPULSTANZ - VIENNA INTERNATIONAL DANCE FESTIVAL 2014: PLATEL(c) APA/HERBERT NEUBAUER (HERBERT NEUBAUER)
  • Drucken

Heute eröffnet das ImPulsTanz-Festival mit Alain Platels „Tauberbach“ über eine Schizophrene, die im Müll lebt. „Die Presse“ sprach mit Platel.

Die Bühne: ein Berg aus abgetragenen Kleidern. Es ist der Müll einer Gesellschaft, die alles hat, nichts mehr braucht und sich trotzdem täglich mit noch mehr eindeckt. Mitten drin steht eine Frau. Manchmal wirkt sie verloren, starrt mit leerem Blick über die bunten Hügel ihres kleinen Reiches. Dann wieder scheint sie klar bei Sinnen und fest entschlossen, reißt die Kleider zu Fetzen oder stellt selbstbewusst fest: „Ich kenne hier jeden – und jeder kennt mich.“ Es ist das neue Stück des flämischen Choreografen und Theaterregisseurs Alain Platel, das heuer als eine der zehn besten Produktionen im deutschsprachigen Raum zum Berliner Theatertreffen eingeladen war: „Tauberbach“.

Platel eröffnet mit diesem eindringlichen Stück das diesjährige ImPulsTanz-Festival. In „Tauberbach“ fügt der feinfühlige Gestalter einmal mehr zusammen, was auf den ersten Blick gar nicht zusammenzupassen scheint. Die Performance handelt von einer schizophrenen Frau, die auf einer Müllhalde lebt. Filmemacher Marcos Prado hat sie porträtiert: Estamira heißt die Hauptdarstellerin seiner gleichnamigen Dokumentation (2004), die u.a. 2005 bei der Viennale zu sehen war. Die resolute Brasilianerin hat zwanzig Jahre lang dadurch überlebt, dass sie im Abfall der Müllhalde von Jardim Gramacho in der Nähe von Rio de Janeiro gewühlt hat.

Leben im Müll – aber mit Würde

Für Platel ist das ein gutes Beispiel dafür, dass auch Menschen, die unter widrigsten Bedingungen leben, ihre Würde wahren können. „Ich halte es hier in Europa für sehr wichtig, Performances zu machen, die diesen Überlebenskampf zeigen, weil wir hier generell so verbittert sind. Es gibt so viel Negativität, obwohl es doch bei uns so viele schöne Dinge gibt.“ Fröhlichkeit trotz widriger Umstände – diese Message verbreitet auch Platels krasser Culture-Mix „Coup Fatal“, der bei den heurigen Festwochen zu sehen war: Ein Stück, bei dem eine kongolesische Truppe Barockmusik mit afrikanischen Rhythmen mischt. „Ich war deshalb einige Male in Kinshasa. Die Menschen dort stehen mit beiden Beinen im Leben, obwohl sie unter schwierigen Umständen ihren Unterhalt verdienen müssen. Trotzdem sind sie in der Lage, positiv zu denken. In Europa ist es genau umgekehrt. Das ist schade!“

Für „Coup Fatal“ ließ Platel 14 Kongolesen im Wiener Burgtheater auftreten, darunter einen Countertenor, der Bach singt und dabei in afrikanischer Tradition die Hüften schwingt: „So etwas ist immer noch ein Thema. Wir haben damit noch keinen ganz unbeschwerten Umgang“, kommentiert er die Reaktionen des Publikums. Schwarzafrikaner sind in Europa nach wie vor eine Randgruppe. Mental Kranke wie Estamira sind es auch. Worum geht es Platel, wenn er sie in den Mittelpunkt rückt? „Ich möchte keine Randgruppen vorführen oder Leute, die Probleme haben. Ich möchte vielmehr zeigen, dass wir alle die Probleme teilen. Für mich ist das nur eine Metapher für die Situation, in der wir alle leben.“

Die Körpersprache, die er mit den Tänzern von Les Ballets C. de la B. entwickelt hat, erinnere die Zuschauer oft an Krankheit, Unzulänglichkeit, Behinderung. Damit wolle er aber nicht abschrecken, sagt er: „Für mich ist das ein Weg, tiefere Gefühlte auszudrücken. Emotionen, für die man nicht die richtigen Worte findet. Sie werden durch den Körper ausgedrückt.“ Und was sei schon die Norm? „Seit ich Heilpädagogik studiert habe, weiß ich, dass die Grenze zwischen normal und abnormal sehr schmal ist.“

Während Prado seine Doku nach Estamira benannt hat, nennt Platel sein im Jänner am Münchner Schauspielhaus uraufgeführtes Stück „Tauberbach“ – nach einem Musikprojekt des polnischen Künstlers Artur Zmijewski, der in seinen Arbeiten ebenfalls immer wieder den Begriff der Normalität hinterfragt und Musik von Bach (Platels deklariertem Lieblingskomponisten) von einem Gehörlosenchor singen ließ. Wie das zu Estamiras Geschichte passt?

Die Poesie „beängstigender“ Musik

„Ich würde nicht sagen, dass ich nach einem eindeutigen Link zwischen dieser Musik und Estamiras Geschichte gesucht habe. Das Stück arbeitet mit diesen beiden Komponenten, die einander verstärken, sodass sich die Poesie und Schönheit von beidem zeigen kann.“ 2007 hat Platel eine Aufnahme mit diesen gewöhnungsbedürftigen Gesängen bekommen: „Ich bin sieben Jahre mit der CD herumgelaufen und habe diese Musik in verschiedenen Proben, für verschiedene Stücke ausprobiert. Aber es ist beängstigende Musik, ein so starker Klang.“ Zuschauer könnten damit auch verschreckt werden.

Die Tauber-Bach-Musik kommt nun nur an einigen Stellen des Stückes zur Verwendung. „Ich habe mich gefragt, wie ich die Leute herbeilocken und sie dazu bringen kann, sich diese Musik anzuhören, ohne einen Schock zu erleiden.“ Ihm jedenfalls habe der Klang dieser Aufnahme sehr gefallen, gesteht Platel: „Ich mag diesen Sound. Und je öfter man das hört, desto mehr entdeckt man, dass es eine eigene Logik und eine eigene Musikalität hat, die man nicht gewöhnt ist zu hören.“ Wieder etwas, was hier nicht der „Normalität“ entspricht.

Tänzer bleiben lange bei der Truppe

So wie Platel selbst. Mit elf besuchte er die Schauspielschule, studierte später Ballett, arbeitete fünf Jahre lang als Heilpädagoge mit schwer behinderten Kindern und gehörte 1984 zu den Begründern von Les Ballets C. de la B. Die Tänzer sind oft sehr lange bei der Truppe – und wenn Platel jemand Neuen sucht, macht er das in persönlichen Gesprächen, nicht in einer Audition: „Man sucht jemanden ja auch nicht danach aus, weil er technisch gut ist – es ist immer eine intuitive Entscheidung.“ Wen er da bevorzugt? „Ich mag scheue Tänzer, die sich nicht in den Vordergrund drängen. Leute, die gern tanzen und ganz einfach nett sind, schließlich muss ich mit ihnen arbeiten.“

TIPPS ZUM FESTIVAL: 17.7.–17.8.

„Tauberbach“ von Alain Platel im Volkstheater. eröffnet das Festival (17., 19., 20.Juli). Dada Masilos „Swan Lake“ ist eine südafrikanische Interpretation des Klassikers (22., 23., 24., 25.7., VT). Meg Stuart zeigt in „Sketches/Notebook“ berührende Improvisationskunst (24.–27.7., MQW/Halle G). Georg Blaschke haucht in „The Bosch Experience“ Werken von Hieronymus Bosch Leben ein (4., 6., 8.8., Gemäldegalerie/Akademie der bildenden Künste). Lloyd Newson und das DV8 Physical Theatre thematisieren in „John“ männliche Liebe und Sexualität (5., 7., 8., 9.8., Akademietheater). Chris Haring lässt in „Deep Dish“ bis zum Kollaps völlern (6. 8., VT) und zeigt seine Satire „Talking Head“ (10., 12.8., Odeon). ImPulsTanz-Mitbegründer Ismael Ivo ließ sich für „Erendira“ vom Magischen Realismus inspirieren (13., 14., 15.8., VT). Das gesamte Programm: www.impulstanz.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.07.2014)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.