ImPulsTanz: Sexschülerinnen in der Körperbibliothek

PK: IMPULSTANZ - VIENNA INTERNATIONAL DANCE FESTIVAL 2014: IVO
PK: IMPULSTANZ - VIENNA INTERNATIONAL DANCE FESTIVAL 2014: IVOAPA/HERBERT NEUBAUER
  • Drucken

Die Uraufführung von Ismael Ivos „Eréndira“ im Volkstheater hatte die Wucht eines García Márquez. Trotz des traurigen Themas Zwangsprostitution, der getanzten Qual: ein Triumph des Schönen.

Zum Abschluss kullern aus dem transparenten Tempel der Lust Orangen, die Akteure quetschen, trinken, baden im Saft. Betörender Duft breitet sich aus und das ist tröstlich nach dem Vorangegangenen. Ismael Ivo, Mitbegründer des ImPulsTanz-Festivals, zeigt „Eréndira“, das heißt „Die Heitere“. Heiter ist nicht das Mädchen, das den mexikanischen Namen trägt, sondern seine Großmutter. Nachdem diese selbst Opfer von Gewalt und Raub geworden ist, kennt sie keine Skrupel mehr. Sie macht ein Puff auf und verkauft ihre Enkelin an Matrosen: „Eine Jungfrau für 100 Pesos! Das ist zu wenig. 300 Pesos!“

Cleide Queiroz spielt diese abgründige Alte. Anfangs sammelt sie die im Zuschauerraum stehenden Opfer, noch halbe Kinder, die somnambul die Augen geschlossen halten, mit ihren Puppen ein, einige wollen flüchten. Es ist kein angenehmes Gefühl, diese jungen Körper direkt vor Augen zu haben und daran denken zu müssen, was in der Wirklichkeit mit ihnen geschieht: Vergewaltigung, Mädchenhandel. Queiroz ist mit ihren suggestiven Gesten und Blicken das Zentrum der Aufführung; in all ihrer Gemeinheit bleibt sie doch ein Mensch, sie reagiert böse auf böse Umstände. Doch auch die anderen Elemente der Produktion beeindrucken: die Trommeln, das „Benedictus“ aus Mozarts Requiem, die peitschenden Gitarrenklänge. Hoch auf ragt die „Biblioteca Do Corpo“, in der Ivos rund 30 Schülerinnen und Schüler exerzieren lässt, eine grandiose Truppe. Dann wechselt die Beleuchtung, ein Gerüst wird sichtbar, man könnte es eine Richtstätte nennen. Keinen Augenblick kommt in Ivos Choreografie Voyeurismus auf, eher hat man Mühe, die von Qual erzählenden Körperverrenkungen zu ertragen. Einige Zuschauer flohen.

Darf man genießen, muss einen grauen?

Die Aufführung, die sich am magischen Realismus des verstorbenen Literaturnobelpreisträgers Gabriel García Márquez orientiert und auch die Wucht seiner Bücher hat, setzt den Besucher einem Stimmungsgewitter aus: Darf er die virtuosen Sprünge bewundern – oder soll er das Grauen bedenken, das dahinter steckt? Nicht nur die Mädchen sind Opfer, auch die Burschen scheinen einerseits verführt von dem köstlichen Angebot, andererseits Getriebene, die nichts genießen können, manchmal auch selber Geschändete sind.

In „Eréndira“ wird die Erfahrung eines langen Tänzer- und Choreografenlebens sichtbar. Der 1955 in São Paulo geborene Ivo lebt seit Langem in Europa und unterrichtet auch am Reinhardt-Seminar. Beim Tanz ist der Körper oft Selbstzweck, darf es sein. Hier aber ist die Körperkunst mit der Geschichte und ihrem tragischen Background in jeder Sekunde perfekt abgemischt: Kein Platz für L'art pour l'art, und doch ist alles da, was wir am Ballett so lieben: die Schönheit, die noch aus dem dunkelsten Winkel einer Story, einer Choreografie leuchtet, ein Triumph über das Hässliche, um das es geht. Starker Applaus!

Fußnote: Warum ein Volkstheater-Direktor nach dem anderen sich in dem Riesenhaus mit notgedrungen zu mageren Auslastungszahlen abquälen muss, die am Image des Hauses nagen, und nicht eine Lösung wie diese praktische, für die Zuschauer bequeme und sichtfreundliche ImPulsTanz-Tribüne gefunden wird, ist unverständlich. Besser ein kleineres und volles Theater, das macht auch mehr Stimmung. Die Idee gibt es seit Jahrzehnten, nichts passiert. Warum?

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.08.2014)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.