Wiener Schauspielhaus: Ein zarter Serienkiller

Florian Flicker
Florian Flicker(c) APA (PFARRHOFER Herbert)
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Regisseur Florian Flicker ästhetisiert Iwan Wyrpajews Monolog „Juli“.

Wie sensibel darf ein kannibalischer Massenmörder sein? Außerordentlich lyrisch ist seine Darstellung im Wiener Schauspielhaus geraten. Dort hatte am Mittwoch das monologische Drama „Juli“ des russischen Berserkers Iwan Wyrypajew Premiere. Bei den Wiener Festwochen wurde im Frühjahr im selben Haus das russische Original gegeben. Diesmal legte Bettina Kerl in der starken deutschen Übersetzung von Stefan Schmidtke ein überzeugendes Solo hin.

Die Übergänge zwischen der Darstellung eines 63-jährigen Wahnsinnigen und seiner jungen Pflegerin sind fließend, die Aufschlüsselung bleibt fast zur Gänze dem Betrachter überlassen. Denn von Inszenierung kann keine Rede sein. Vortrag pur; Regisseur Florian Flicker geht sehr sparsam mit Ideen zur Versinnlichung des Textes um.

Die Bühne bleibt unberührt. Kerl tritt schlicht gekleidet an die Rampe vor den roten Vorhang, der geschlossen bleibt, als Accessoires sind Handschuhe und eine Perlenkette zugelassen, mit der Kerl zuweilen nervös spielt. Der Gipfel der Dramatik: Windgeräusche (Ton: Almut Bertha), verschieden große Spots (Bühne und Licht: Gudaz Moradi, Kathrin Kölsch) wie im Varieté, die sich auf die Gestalt oder auch nur das Gesicht der Darstellerin konzentrieren. Sie zieht später ihre Pumps aus, stellt sich auf einen Zuschauersessel in der ersten Reihe. Zuweilen hat man den Eindruck, hinter dem Vorhang fahre eine Zug vorbei oder ein Unwetter passiere. Doch vermutlich soll man nicht abgelenkt werden vom Wesentlichen. Das ist der gekonnte Vortrag einer sensiblen Schauspielerin, die den rabiaten, schizophrenen Text veräußerlicht. Sie spielt einen Mann, dessen Haus im Juli abbrennt, mit all seiner Habe, der dann den Nachbarn massakriert, seinen Hund heimtückisch an ins Futter gemischten Glassplittern verrecken lässt, wie ein rächender Dämon nach Smolensk fährt, einen Obdachlosen erwürgt und dann auch noch einen Hund, den er roh halb auffrisst. Er befördert einen heiligen Popen ins Jenseits und landet schließlich halb erschlagen im Irrenhaus.

Zwischen Dostojewski und Beckett

Dort trifft er nach sechs Jahren Delirium auf die arglose Pflegerin Janna/Nelly, die ihn als Erste wie einen Menschen behandelt. Wer wird sich als stärker erweisen in dieser ungleichen Beziehung? Das sei nicht verraten, wohl aber, dass dieser Text, der Schreckliches ganz naiv und harmlos berichtet, der atmosphärisch irgendwo zwischen Dostojewski und Beckett angesiedelt ist, einen starken Sog entwickelt. Das Böse ist banal: Es „nahm den erstbesten Gegenstand vom Tisch, ein Messer, stach diesem Scheißkerl damit genau zwischen die Lippen und stieß es durch seinen Mund hindurch bis zum Genick, damit aus dem Maul dieses Saukerls nie wieder auch nur ein mieses Dreckswort fallen konnte.“

Bettina Kerl ist hoch konzentriert bei der Sache, niemals käme man auf die Idee, den Blick von ihr zu wenden, dazu ist ihr Vortrag viel zu intensiv. Jeder Mensch kann zum Mörder werden. Diese deprimierende Einsicht bestätigt sich, wenn man die schöne junge Frau den Wahnsinn spielen sieht.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.10.2008)

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