Theater in der Josefstadt: Das ewige Weinen der Kinder

(c) AP (Stephan Trierenberg)
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Erstmals wird die Probebühne bespielt – mit einem Stück über das Spiegelgrund-Opfer Friedrich Zawrel. Erschütternd.

Das Theater stellt Behauptungen auf, z.B. die, dass es eine moralische Anstalt ist und die Menschen besser macht. In der Praxis funktioniert das meist nicht, was man z. B. daran erkennen kann, dass die Besucher, kurz nachdem sie zwei Stunden zu menschenfreundlichem Handeln aufgefordert wurden, den Nächsten an der Garderobe niedertrampeln. Das Theater ist, trotz Schiller und Brecht, keine moralische Anstalt, sondern meistens eine Weihestätte des Eskapismus.

Das trifft auch zu, wenn es um das Dritte Reich geht. Erschütterung und Voyeurismus liegen hier ganz nah beieinander, bedingt durch den natürlichen Exhibitionismus des Theaters. Nur selten findet eine echte Involvierung statt, wie sie sich Mittwochabend in der Josefstadt ereignete. Diese bespielt erstmals ihre Probebühne, eine modische Blackbox: mit der Uraufführung von „In der Psychiatrie ist es nicht so schön“, einem Text von Stefan Geszti nach Originalzitaten des heute 89-jährigen Spiegelgrund-Opfers Friedrich Zawrel.

Grandios: Rafael Schuchter

In der Kinderklinik „Am Spiegelgrund“ (heute das Otto-Wagner-Spital auf der Baumgartner Höhe) wurden in der NS-Zeit 700 bis 800 geistig behinderte oder asoziale Kinder grausam gequält und getötet. Einer der beteiligten Ärzte, Heinrich Gross (1915–2005), wurde nie rechtskräftig verurteilt und lebte als angesehener Gutachter nach dem Krieg in Wien. Der Spiegelgrund wurde mehrfach im Theater verarbeitet: Christoph Marthaler zeigte ein Oratorium bei den Festwochen, Johann Kresnik eine Performance im Volkstheater. Die spezielle Aura des Abends in der Josefstadt ist Rafael Schuchter zu verdanken. Der junge Mann im Anzug, der Zawrels unermesslich schreckliche Erinnerungen wieder aufleben lässt, könnte ein Bankangestellter sein, so elegant, wie er aussieht, so einleuchtend, wie er argumentiert.

Hier redet kein einfacher Mensch von seinem privaten Leid. Hier werden allgemeine Phänomene in dem Anlass gemäß wuchtiger, dann aber auch wieder nachdenklicher Weise verhandelt: die Grausamkeit gegen Kinder, der Existenzkampf der Unterschicht, das Ränkespiel der Mächtigen, ihre Verweigerung von Schuldbewusstsein. Die Aufführung hebt das Geschehen über die Konfrontation Zawrels mit seinem Peiniger hinaus.

Bei der Uraufführung saß Zawrel mit Josefstadt-Direktor Herbert Föttinger in der ersten Reihe. Föttinger umarmte am Ende den weinenden alten Mann, der wie ein Bindeglied zwischen Bühne und Leben wirkte. Manchmal sind Worte zu arm, ein Theatererlebnis zu beschreiben. bp

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.12.2008)

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