Schauspielhaus Zürich: Verloren auf hoher See

Matthias Hartmann Direktor Schauspielhaus Zürich
Matthias Hartmann Direktor Schauspielhaus Zürich(c) Die Presse (Michaela Bruckberger)
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30 Jahre nach der Uraufführung wirkt Thomas Bernhards "Immanuel Kant" wie eine geschwätzige Variante des absurden Theaters. Matthias Hartmann gelingt dennoch eine kluge Inszenierung.

Eine große Metapher zeigt Regisseur Matthias Hartmann zu Beginn seiner Inszenierung von „Immanuel Kant“, das am Samstag im Schauspielhaus Zürich Premiere hatte. Statt eines Vorhangs verdeckt ein zarter Schleier die Bühne, er dient als Leinwand. Darauf wogt es minutenlang in Schwarz-Weiß wie Rauch oder wie das Wasser einer Welle am Heck.

Wir befinden uns auf hoher See, das Leben fließt vorbei. Es ist zwecklos, sich wie Kant in den nächsten zweieinviertel Stunden immer wieder nach der Richtung Westnordwest zu orientieren. Wir sind bereits am Ziel: Öd und leer das Meer. Die Welt ist ein Irrenhaus, ein Papagei ist sein Prophet.

Hausherr Hartmann hat sich im Finale seiner Zürcher Direktion, sozusagen als einen Gruß an das Publikum des von ihm ab Herbst geleiteten Burgtheaters, ein schwieriges Stück von Thomas Bernhard vorgenommen, der in Wien zwanzig Jahre nach seinem frühen Tod vom Bürgerschreck zum geliebten Klassiker geworden ist. Die aber haben auch ihre Gefahren. Der Text des 1978 uraufgeführten „Kant“, wiewohl hoch musikalisch, wirkt 30Jahre später wie eine verspätete, etwas geschwätzige Variante des absurden Theaters, er zeigt vor allem am Anfang Längen.

Glänzend: Maertens, Melles

Diese Aufführung aber kann dennoch überzeugen. Hartmann hat „Immanuel Kant“ klug umgesetzt. Er trifft den Rhythmus und den Sound, er ist maßvoll in der Übertreibung, vor allem aber hat er zwei Protagonisten, die den Abend zu einem glanzvollen machen. Besser als Michael Maertens und Sunnyi Melles kann man diese Karikatur eines Philosophen und einer Millionärin wohl kaum spielen. Sie tragen den Abend.

Der beginnt, wie gesagt, etwas zögerlich. Der Schleier hebt sich, wir befinden uns auf dem surrealen Vorderdeck eines Ozeandampfers, mit Klappstühlen aus Teakholz, mit Bullaugen im zart bewölkten blauen Himmel (Bühne: Volker Hintermeier). Eine seltsame Truppe betritt die nach allen Seiten hin bewegliche, immer wieder zum Schwanken neigende Bühne. Kant trägt unglaublich starke Brillen, aus einem Auge quillt bereits der Grüne Star, der Philosoph der Aufklärung hat einen weißen Stock bei sich.

Kants Frau (Karin Pfammatter) wuselt besorgt herum, dirigiert den Steward (Wolfgang Michael), der die Gesellschaft mit größtmöglicher Stoik erträgt. Im Kontrast zu Kant: Der hat sich gegen die Reise gesträubt, die er nur deshalb antrat, weil er sich in New York an der Columbia Universität, die ihm eine Professur verleiht, die Augen operieren lassen will. Frau Kant hat das durchgesetzt: „Du bringst Amerika die Vernunft. Amerika gibt dir das Augenlicht.“

Vernunft? Licht? Blöde trägt Kants Bruder Ernst Ludwig (Siggi Schwientek) einen mit rotem Samt verhüllten großen Vogelbauer mit sich, die philosophische Hauptfigur: Ein lichtscheuer Psittacus erithacus namens Friedrich, der klügste aller Papageien, der das Gesamtwerk des Philosophen memoriert hat. Dessen ganze Sorge gilt dem grauen Vogel (mit der Stimme von Michael Ransburg).

Beharrlich wiederkehrende Aggression

Das vorherrschende Lebensgefühl: Angst. Ernst Ludwig wird von Kant in regelmäßigen Abständen dafür gezüchtigt, dass er die Pflege des Papageis nicht recht macht. Das sind die Momente der tiefsten Aggression, die Maertens hier spielt, sie wiederholen sich so beharrlich wie das Tröten der Dampfpfeifen, wie die seltsamen, völlig aus dem Zusammenhang gerissenen Sentenzen, die er aus den vorkritischen Schriften über die Gestirne von sich gibt. Maertens zieht alle Register beim Erzeugen dieser Kunstfigur. Er ist heimtückisch, hilflos, besserwisserisch, voll Liebe zum Vogel und voll Hass auf Amerika – mühelos stimmt er diese Zustände auf den Text ab. Die Komik entsteht bei sparsamer Verwendung von Slapstick vor allem durch die unterschiedlichen Sprachregister. Von der Exzentrizität spricht der Professor, der blöde Bruder wiederholt verfremdet die Phrasen, der Vogel kreischt „Imperativ. Imperativ. Imperativ“, und im nächsten Moment spucken die Kants ein Wort wie „Kuttelfleck“ aus.

Alles sei Karikatur, heißt es im Text. Am besten beherrscht Melles diesen Leitspruch, sie ist eine begnadete Komödiantin, die das abgründig Komische an Bernhard nicht nur begriffen hat, sondern auch traumwandlerisch umsetzt. Selbst billige Gags gelingen ihr, wenn sie sich etwa wie die Protagonistin des Hollywood-Schinkens „Titanic“ sehnsuchtsvoll an die Reling wirft, wenn sie mit ihrem künstlichen Knie spielt, das ein Grimassen schneidendes Gesicht aufgemalt hat. Sie trägt zum schwarzen Badeanzug mit leichtem Strandkleid (Kostüme: Su Bühler) eine närrische Feldherrenkappe wie Napoleon. Sie ist der modische Wahnsinn von Anfang an.

In einer Phase der Ermüdung bringt Melles als dumme, reiche Schnapsdrossel den nötigen Schwung in das böse Sprachspiel, verkörpert hinreißend die Ignoranz, wenn sie sich, bereits illuminiert, dem Kardinal (Hans-Michael Rehberg), dem Admiral (Traugott Buhre), dem Kapitän (Marcus Kiepe) oder dem Kunstsammler (Fritz Schediwy) an den Hals wirft. Sogar Kant tanzt mit ihr, von der Millionärin mit blutender Hand ins Off geführt, der Papagei bestätigt es.

Der Donauwalzer, fast ein Totentanz

Melles aber spielt sie alle an die Wand in dieser seltsamen Tischgesellschaft beim Lampionfest, im Takt des Donauwalzers, der fast schon ein Totentanz ist. Wie anders sollte man etwa jenen Satz verstehen, den sie fast mit Furcht und Zittern sagt? „Ich habe auch immer Angst gehabt vor der Elektrizität. Man greift hin und ist verkohlt.“

Entkommen kann keiner aus dieser tödlichen Gesellschaft. Man fährt nach Amerika und landet im Irrenhaus, das ist noch das Höchste, was diesen künstlichen Kreaturen Bernhards passieren kann. Wenn man Pech hat, ereilt einen das Schändlichste. Dann „verunglückt“ man an einer Gartenschaufel, die der Schwester Kants den Kopf zerschmettert hat. Das ist die Moral dieses vorkritischen Thomas Bernhard. Der Philosoph ist blind, er ist irre: „Sie haben mich erkannt.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.01.2009)

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