Neue Oper Wien: Orest im Bahnhof

Manfred Trojahns düsterer "Orest", inszeniert von Philipp M. Krenn: eine Endlosschleife.

"No Future" ist auf die dreckigen und zerkratzten Plexiglaswände des Warteraums gesprüht: Hier sind sogar die Graffiti alt. Ausstatter Nikolaus Webern hat ein Bahnhofselend von detailgenauer Hässlichkeit geschaffen, dessen Tristesse das Publikum in der HalleE des Wiener Museumsquartiers schon vor der Aufführung auf sich wirken lassen kann. In der Szenerie sitzen, lehnen, hocken Leute, tragen Trenchcoats und Aktenkoffer. Sie warten. Der großen Uhr fehlt ein Zeiger. Sie steht. Nie hält ein Zug.

Den Muttermörder Orest rückte der 65-jährige deutsche Komponist Manfred Trojahn ins Zentrum seiner sechsten Oper: 2011 in Amsterdam mit Dietrich Henschel in der Titelpartie und in der Regie von Katie Mitchell uraufgeführt, ist das Werk nun erstmals in Österreich zu erleben – als Produktion der Neuen Oper Wien. Seit fast einem Vierteljahrhundert stellt diese längst unverzichtbare Operntruppe neue oder wichtige ältere Beispiele der vielseitigen Gattung zur Diskussion – in einer Qualität, die jüngst wieder international Furore gemacht hat: Die im Frühjahr an der Kammeroper herausgekommene Produktion von Birtwistles „Punch and Judy“ errang im Oktober beim Armel Opera Festival in Budapest den Publikumspreis des Senders Arte und die Jury-Auszeichnung für die beste Produktion. Am Dirigentenpult stand dabei wie immer NOW-Intendant Walter Kobéra, der vor 16 Jahren schon Trojahns Erstling, „Enrico“, in Wien interpretiert hat.

Mit dem konzentrierten Amadeus Ensemble Wien verschreibt Kobéra sich nun gewohnt leidenschaftlich der düsteren Partitur, die sujetgemäß oft wild-eruptive, aber auch subtile Töne anschlägt, die sich zu tonalen Inseln verdichten können. In manchen Klangfarben oder sprachlichen Wendungen scheut der Komponist und Librettist in Personalunion vor Allusionen an Straussens „Elektra“ u.a. nicht zurück, obwohl er hier ja Euripides' Fortsetzung adaptiert: Der von inneren, teils im Surroundsound zugespielten Stimmen gepeinigte Orest lässt sich von der rachsüchtigen Schwester anstacheln, auch Helena zu töten. Die fordernden Singstimmen wechseln in 80 kompakten Minuten zwischen exaltierten Ausbrüchen und rezitativischer Klarheit; Übertitel hätten geholfen. Regisseur Philipp M. Krenn lässt Orest als psychotischen Obdachlosen durch die Anonymität des Bahnhofs stolpern und an der Rampe, also am Abgrund des Bahnsteigrandes, balancieren. Klemens Sander, glaubwürdig verwahrlost und den Tod suchend, durchlebt hier eine grässliche Fantasie, erblickt in Passanten Familienmitglieder – und alte wie neue Opfer.

Überraschende, starke Szenen

Die Chorpartie ist klein, doch hat Krenn mit den Mitgliedern des Wiener Kammerchores und Statisten teils überraschende, starke Szenen erarbeitet: etwa wenn Jennifer Davison als Helena die lauernde Geilheit der Männer weckt. Gernot Heinrich schminkt sich in der Doppelrolle des Apollon/Dionysos das gespenstische Grinsen von Batmans Joker ins Gesicht und besitzt in einer Handpuppe einen unheimlichen Zwilling – schade, dass seinem Tenor in der Höhe Farbe und Kraft fehlen. Dafür erklomm die zierliche Avelyn Francis unerschrocken die zahlreichen Gipfel von Hermiones zerklüfteten Melodien.

Der Spuk zerstiebt. Schon sitzen, lehnen, hocken sie wieder. Die Uhr steht. Nie hält ein Zug. Und Orests Qualen können von vorn beginnen. Oder findet er mit Hermione einen Ausweg? Freundliche Begeisterung.

Noch am 30.10., 1., 3., 4.11., 20Uhr; Einführung: 19.15Uhr. www.neueoperwien.at

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.10.2014)

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