„Schneekönigin“: Da pupst die Luft aus allen Poren!

FOTOPROBE AKADEMIETHEATER: DIE SCHNEEK�NIGIN
FOTOPROBE AKADEMIETHEATER: DIE SCHNEEK�NIGIN(c) APA/ROLAND SCHLAGER (ROLAND SCHLAGER)
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Annette Raffalt inszenierte Andersens komplexe „Schneekönigin“. Peter Raffalt schrieb eine modisch vereinfachte Fassung: teils recht nett, teils schmerzhaft doof.

Märchen, so lautet eine These der Schweizer Psychologin Verena Kast – die auf den Spuren C. G. Jungs die alten Geschichten erkundet –, dienen u.a. der Erringung der Autonomie. Auf der „Reise des Helden“ gibt es für diesen keine Gewissheiten, der Weg ist das Ziel, darum wirken Märchen oft rätselhaft, sie sind eben vieldeutig. Heute glaubt man offenbar nicht mehr an das Vage, jedenfalls nicht im Akademietheater, wo Annette Raffalt eine ihrer bunten Inszenierungen herausgebracht hat, Peter Raffalt schrieb dazu eine modische und stringente Geschichte nach H. C. Andersens „Schneekönigin“, die zu den besonders komplexen Erfindungen des Dänen gehört.

Kai und Gerda sind arm, aber glücklich, denn sie sind Freunde. Eines Tages wird Kai von der Schneekönigin entführt. Gerda begibt sich auf die Suche nach ihm. Drei Kobolde verkörpern die Hindernisse und Versuchungen, die Gerdas Expedition behindern, im Guten wie im Bösen. So gerät Gerda etwa in eine Disco, wo sie zwar jede Menge Spaß hat, aber beinahe ihre Mission vergisst. Noch schlimmer ist es mit der alten Frau, die das Mädchen in ihren Zaubergarten lockt, einlullt und dann in der Art, wie es Eltern gern machen, bedrängt: Ich werde krank, ich bin einsam, du muss bei mir bleiben usw.

Kein Teufel, bloß eine eitle Diva

Der Teufel, dessen Zauberspiegel bei Andersen zerbricht – seine Scherben verderben die Welt und lassen alles Schöne hässlich erscheinen – existiert zwar, aber er dient bloß der eitlen Schneekönigin. Stefanie Dvorak liegt das gefährliche Charisma dieser Dame fern, sie ist viel zu sympathisch, überdies wirkt sie mit ihren langen, weißen Haaren und der schimmernden Robe wie ein Hollywoodstar. Zu allem Überfluss repräsentiert sie den „Verstand“, eine grobe Verkürzung von Andersens Ideen. Die Schneekönigin dürfte vor allem ein Synonym für die Kälte der Welt sein, ein zentrales Thema des Dichters, der Sohn eines verarmten Schusters war mit 14 Jahren auf sich allein gestellt.

Eventuell wäre es passender gewesen, sich in der Symbolik, den Motiven der Romantik umzuschauen; Zitate finden sich im Programmheft. Die Aufführung bietet weniger eine Expedition als kurze Wege, praktische Aktualität – und sie bedient die Schaulust. Die Kobolde veranstalten teilweise eine Schmiere, wie man sie in der Burg kaum mehr sieht. Nadia Migdal als Wolke stemmt die Arme in die Hüften. Hans Dieter Knebel gibt schematisch den treuherzigen Friedensstifter und Angsthasen Gogo. André Meyer als Alfons trägt Clown-Latschen, zieht Grimassen und kassiert Lacher als alte Frau.

Amüsant, zu durchsichtig für Andersen

Bei dem Allotria, das hier getrieben wird, „pupst“ wirklich „die Luft aus allen Poren“, wie es im Stück heißt. Natürlich gefällt das Kindern, aber es wird davon derart im Überfluss produziert, im Fernsehen, im Kino, dass man sich fragt, ob nicht gerade die Burg versuchen sollte, etwas gegenzusteuern. Kein Wunder, dass der Nachwuchs Probleme hat, Klassiker zu verstehen, wenn ihm in frühesten Jahren kulturelles Fast Food vorgesetzt wird. Bildungsauftrag? Gähn. Schnarch. Aber das ist eben der Punkt: Bildung bietet die Chance, ein differenziertes Weltbild zu entwickeln, in dem das Leben eben nicht so einfach und klar ist wie in HD.

Immerhin: Tino Hillebrand zeigt als Kai die Verwandlung vom lieben Buben zum pubertierenden Rüpel. Bezaubernd ist Alina Fritsch – die bei den Festspielen in Reichenau entdeckt wurde – als Gerda, die einzige Figur, die dem Originalmärchen halbwegs gerecht wird und doch auch von heute ist. Köstlich wirkt der Moment, wenn Kai, noch als Knabe, Gerda küssen will und sich auf ihrem Gesicht Grausen und Neugier spiegeln.

Regina Fritschs Tochter sollte ihr Talent noch weiter entwickeln. Aber einiges Wichtige ist bereits vorhanden: Charme, Keckheit, Jugendfrische, Selbstbewusstsein, Ausstrahlung. Insgesamt ist diese Aufführung eher halblustig, opulent, aber dennoch zu dünn geraten. Ein Tipp: „Die Schneekönigin“, das Bilderbuch mit Illustrationen von Olga Poljakowa, vereinfacht das Märchen auch, bleibt aber näher bei Andersen (Gondolino).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.11.2014)

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