Burgtheater: „Madonna, werde Feministin, vertreibe Putin!“

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„Putins neues Russland“: Dörte Lyssewski und Philipp Hauß lasen aus Werken der Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch und des Soziologen Mischa Gabowitsch, die über die Lage in ihrer Heimat uneins sind.

Von wegen Desinteresse an Politik: Lange Menschenschlangen bildeten sich Donnerstagabend an der Kasse des Kasinos, um die erste Veranstaltung der neuen Burgtheater-Reihe „Grenzgänger/Grenzdenker“ – in Kooperation mit Erste-Stiftung und „Presse“ – zu erleben. „Putins neues Russland“ hieß das Thema, Dörte Lyssewski und Philipp Hauß lasen aus Werken der Autoren Swetlana Alexijewitsch und Mischa Gabowitsch. Hernach diskutierten beide mit ihrem Kollegen Martin Pollack, Kurator der neuen Reihe.

„Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus“ heißt Alexijewitschs neuestes Buch, in Interviews erkundet sie die Gefühlslage des Volkes. In „Putin kaputt?“ beschreibt Gabowitsch Russlands neue Protestkultur. In der russischen Küche, Kernzelle einer von Umstürzen und Verwerfungen heimgesuchten Gesellschaft, ist die Stimmung seit Jahrzehnten unverändert, signalisiert die Lesung. Kinder schlummern auf dem Sofa, während die Erwachsenen kochen, essen, trinken und streiten: „Ein Kommunist ist einer, der Marx gelesen hat, ein Antikommunist ist einer, der ihn verstanden hat.“ Ein Ehepaar, das Philosophie studierte, bringt sich als Heizer und Hauswartin durch, bis Gorbatschows Perestroika in den 1980er- und 1990er-Jahren aus 90 wertvollen Rubeln zehn wertlose Dollar macht; die Russen hungern, alte Leute drängen sich im Park um die Suppenküche von Krishna-Jüngern. Wozu genau ist noch einmal der Kapitalismus gut? Für Jeans, Marlboro, „die Leute schimpfen auf Marx und reisen nach Europa“. War früher alles besser? Eine Mutter vertraute ihr Kleinkind der Nachbarin an, nachdem sie denunziert wurde und ins Gefängnis wanderte. Viele Jahre später stellt die Frau fest, dass eben diese Nachbarin sie denunziert hatte.

„Weimar-Komplex“, Revanchismus

Die Polarisierungen zwischen vorwärts stürmenden Reform-Intellektuellen, skrupelloser Wirtschaft, korrupter Politik und einem Volk, in dem der Fatalismus trübe, krasse, skurrile Blüten treibt, ist nicht neu, vielleicht nicht einmal ein typisch russisches Phänomen. Das ist das Spannendste – wie ähnlich Völker fühlen, die weit entfernt voneinander leben. „Lieber ein Zimmermädchen in den Staaten mit gutem Lohn als eine Ärztin mit dem Gehalt einer Obdachlosen daheim. Hier essen sie Erdbeeren im Winter“, berichtet eine junge Auswanderin in die USA. „Mutter Gottes, werde Feministin und vertreibe Putin!“, betet eine Daheimgebliebene.

Gegensätzlich verlief hernach die Diskussion der beiden Schriftsteller. Putin sei „nicht verrückt, er habe den Ruf der Gesellschaft vernommen“, die außerhalb von Moskau und St.Petersburg lebt, erklärt Alexijewitsch. In einer Internetumfrage stimmten 37Prozent der Befragten für einen Krieg zum Schutz des Vaterlandes. Die Jugend lasse sich nicht mehr „vom Westen erniedrigen“. „Es ist der Weimar-Komplex, der kleine Mann will Revanche.“ Gabowitsch kontert: Jene, die Ja zum Krieg sagten, ziehen noch lange nicht in diesen, wenn es drauf ankomme. Wirtschaftlich gehe es den Russen so gut wie lang nicht, sie seien bloß enttäuscht, weil sie nicht, wie gehofft, bald nach der Wende „wie die Schweden lebten“, die Erwartungen waren zu hoch gesteckt. Aber nicht nur der Führung sei, trotz des Gefühls der „Bedrohung durch die Nato“ und Gerüchten, die USA schürten die Unruhe, klar, dass der Aufstand in der Ukraine nicht „von außen“ gesteuert sei, sondern dass das Land nach Europa wolle.

Russische Mütter erhalten Särge aus der Ukraine. Wenn sie sich beklagen, bekommen sie keine Entschädigung für ihre toten Söhne, sagt Alexijewitsch: Die Intelligenz verstecke sich oder gehe in den Westen, Bauernsöhne werden zur Armee eingezogen, die Oligarchen raffen. „Der Staat ist in Russland immer über den Menschen gestanden. Sie warten auf ein Wunder, auf den guten Zaren, das ist in ihrer Genetik,“ so Alexijewitsch. „Viele rebellieren, trotz Haft, das kann man nicht mit Genetik erklären“, widerspricht Gabowitsch. Ein Rat für künftige Debatten: weniger Einäugigkeit, mehr Fantasie. Was würde passieren, machten sich EU-Länder oder US-Bundesstaaten selbstständig?

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.11.2014)

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