Ein herrlich irrer Theater-Kosmos!

Gegenwart der Erinnerung
Gegenwart der Erinnerung(c) Grazer Schaulspielhaus
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Grazer Schauspielhaus. Gert Jonkes komplexes Festspiel „Gegenwart der Erinnerung“ über Zeit und Musik begeistert in einer grandiosen Inszenierung von Christiane Pohle.

Ein Mann sucht im Schneetreiben nach dem Haus, in dem eine Frau auf ihn wartet, mit der er auf Reisen gehen möchte. Erst verschwindet das Haus, dann die Frau. Wäre Musik nicht viel schöner ohne Instrumente? Sind diese „Maschinen“ nicht letztlich „Krücken“, die nie mit dem idealen Klang im Kopf mithalten können? Eine von Pfahlbauten im Moor mit modernden Menschen umgebene Stadt verfällt in einer Art Umwelt-Katastrophe, die Schlote, die immer höher in den Himmel gebaut wurden, brechen ab, der Wind flieht vor dem Pesthauch. Der Oberbaurat verweigert jede Auskunft. Er baut lieber Irrenanstalten, in denen Künstler gratis wohnen können. Und was ist mit dem Liebespaar los, das am See-Strand Ekstasen der Leidenschaft erlebt, obwohl die zwei einander kaum berühren. Liebe, ein Traum, kann sie nur ein Traum sein?

Begehbare Bilder für Sommerparty

Christiane Pohle hat im Grazer Schauspielhaus fulminant Gert Jonkes Festspiel „Gegenwart der Erinnerung“ bearbeitet und inszeniert. Die Aufführung, die Donnerstagabend Premiere hatte, war schon am Beginn mäßig voll, weitere Besucher flohen in der Pause. In der letzten Saison ist Risiko angesagt, mag sich die scheidende Schauspielhaus-Intendantin Anna Badora gedacht haben. Der Schlussapplaus fiel dann doch ziemlich kräftig aus. Jonke als Theater-Autor wurde an Emmy Werners Volkstheater entdeckt, sie zeigte vier Uraufführungen und inszenierte selbst in den 1990er-Jahren „Gegenwart der Erinnerung“. Jonkes „Chor-phantasie“ und „Die versunkene Kathedrale“ erfreuten später im Akademietheater. Den Rahmen von „Gegenwart der Erinnerung“ bildet der Wunsch des Fotografen Anton Diabelli und seiner Schwester Johanna bei einem sommerlichen Gartenfest die Feier ein Jahr zuvor zu wiederholen. Jonke veranstaltet ein Feuerwerk an Assoziationen und Spekulationen über die Phänomene Zeit und Musik. In den Dialogen bilden sich Beethovens Diabelli-Variationen ebenso ab wie Czernys Etüden. Ein Maler schafft begehbare Bilder, die Figuren marschieren durch Sphären und Dimensionen – und am Schluss gibt es sogar noch Anklänge an Agenten-Thriller.

Ensemble brilliert, Publikum flieht

Wie in der „Schule der Geläufigkeit“ muss man höllisch acht geben, um keine Note, keine Volte zu verpassen. Auch der Spaß kommt beim schrulligen Schalk Jonke keineswegs zu kurz. Von Sartre, Buñuel ließ sich der 2009 verstorbene Dichter inspirieren – und doch bleibt er auch immer mit mindestens einer Zehe an den Gestaden des heimatlichen Wörthersees mit seiner Schickeria, seinen Landsitzen und gesellschaftlichen Ritualen.

Die Schauspieler haben dieses fantasievolle Werk, das zwischen Realität und Imagination, Satire und Lyrik, Naturwissenschaft und Kunst hin und her hüpft, in bewundernswerter Weise einstudiert. Prosaist Jonke erweist sich insofern als Theaterpraktiker, als er wie bei einer Nummernrevue fast jedem seinen großen Auftritt gewährt: speziell dem herrlichen Original Thomas Frank als Dichter Kalkbrenner, der im Selbstversuch die unterschiedlichen Geschwindigkeiten des Bierflusses in Kehle und Kübel „wissenschaftlich“ erkundet, oder dem Maler Florian Waldstein, der perplexen Rezensenten, die auf leeren Instrumenten-Koffern sitzen, seine extremen musikalischen Theorien um die Ohren schlägt. Der intellektuelle Anton Diabelli (Christoph Rothenbuchner), der sich das Ganze so fein ausgedacht hat, muss zusehen, wie ihm sein Gebilde entgleitet. Der nachdenkliche Komponist Burgmüller (Sebastian Reiß) gewinnt die schöne Johanna (Philine Bührer). Im Kalkbrenner hat Jonke wohl seinen musikversessenen Kollegen Thomas Bernhard verewigt. Franz Xaver Zach und Gerhard Balluch amüsieren als Bautenpolizist und Oberbaurat, überfordert von Katastrophen, die ihre Planungen hervorbringen. Skurril: Die dummschlaue Magistratsdirektorin (Franziska Benz).

Lukas Hirzberger (Trompete) und Matthias Frank (Schlagwerk) führen höchst witzig vor, wie schwer es ist, perfekt zu musizieren und was dabei alles schiefgehen kann. Kurz vor Schluss baut sich auf der dunklen Bühne eine gewaltige schwarze Blase bedrohlich auf, die aber dann doch nicht platzt. Die Zauberlehrlinge, die den Augenblick festhalten wollten, bleiben ratlos zurück. Trotz der Irritationen beim Publikum: Ein großer Abend im Grazer Schauspielhaus.

ZU DEN PERSONEN

Anna Badora war Schauspielchefin in Mainz und zehn Jahre lang Generalintendantin in Düsseldorf. Seit 2006 führt sie mit viel Erfindungsreichtum das Grazer Schauspielhaus. Im Herbst 2015 übernimmt Badora von Michael Schottenberg das Wiener Volkstheater. Badoras Nachfolgerin in Graz wird Iris Laufenberg, die Kölnerin leitete das Berliner Theatertreffen und zuletzt mit viel Gespür für Trends das Schauspiel des Konzert-Theaters Bern.

Christiane Pohle hat schon öfter Jonke-Texte bzw. -Stücke inszeniert, „Chorfantasie“, „Die versunkene Kathedrale“, „Freier Fall“ und „Seltsame Sache“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.01.2015)

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