Manche Regisseure lieben die österreichische Nobelpreisträgerin für Literatur, weil sie zulässt, dass ihre ausufernden Werke wie ein Steinbruch benutzt werden dürfen.
Seit Elfriede Jelinek 1979 beim „Steirischen Herbst“ in Graz mit ihrem noch recht konventionellen Stück „Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesellschaften“ debütierte, ist ihr dramatisches Werk mit beschleunigtem Tempo gewachsen, nicht nur an Umfang, sondern auch an Komplexität nahm es zu. Mehr als 30 solcher Texte stehen inzwischen zur Verfügung. Viele davon sind Collagen, ein vielstimmiger poetischer Wortschwall, der kaum einzelnen Figuren zuzuordnen ist.
Als Steinbruch, als endlose Tiraden oder gar als sprachliche Abraumhalden werden diese Dramen zuweilen exakt bis hilflos beschrieben. Die Wiener Dichterin selbst hat einmal ironisch bemerkt, dass sie nicht nur das Sekundärdrama, sondern auch das Schmarotzerdrama erfunden habe. In der sarkastischen Imitation von Werbesprache oder politischen Slogans ist Elfriede Jelinek eine Meisterin, sie enthüllt und verhüllt zugleich mit ihrer dicht gewobenen Textur.
Wie aber soll man diese Vieldeutigkeit umsetzen? Das ist für manche Regisseure vielleicht sogar leichter als bei der sogenannten Werktreue, auf die andere Dramatiker oder ihre Erben pochen. In „Ein Sportstück“, das 1998 im Burgtheater uraufgeführt wurde, steht über die Methode ein bezeichnender Satz: „Die Autorin gibt nicht viele Anweisungen, das hat sie inzwischen gelernt. Machen Sie was Sie wollen,“ heißt es dort eingangs, und der geniale deutsche Regisseur Einar Schleef hat sich tatsächlich daran gehalten: 142 Darsteller inklusive Sprechchor sowie mit kleinem Orchester. Schleef überzog bei der Premiere maßlos die eiserne Regel des Burgtheaters, dass um 23 Uhr Schluss sein müsse. Die Vorstellung dauerte bis ein Uhr nachts – aber was für eine gigantische Demonstration an Wortgewalt war das!
Mit dem Text „Die Schutzbefohlenen“, der nun am Burgtheater als Material für die österreichische Erstaufführung dient, könnte man auch bis weit nach Mitternacht spielen, so umfangreich ist er. Auf ihrer Homepage (www.elfriedejelinek.com) hat sie ihn offenbar auch stets ergänzt, ein „work in progress“ zu dem die Dichterin durch aktuelle Ereignisse angeregt wurde – Flüchtlinge suchten Ende 2012 in der Wiener Votivkirche Schutz, zudem begannen sich damals die Tragödien ertrinkender Migranten im Mittelmeer zu häufen, die per Boot Europa erreichen wollten. In einem Fall kamen so mehr als 300 Menschen vor der italienischen Insel Lampedusa ums Leben. Jelinek reicherte diese Stoffe um Elemente aus der 2470 Jahre alten griechischen Tragödie „Die Schutzflehenden“ des Aischylos an. Auch Zitate des deutschen Philosophen Martin Heidegger sind wieder einmal eingefügt.
Wem die Textmasse der „Schutzbefohlenen“, die von Regisseur Michael Thalheimer nun für das Burgtheater dramatisch eingekürzt wird, nicht genügt, der kann sich auf der Homepage der Dichterin reichlich Ergänzungen erlesen, aber auch im Feld der Wissenschaft. Nicht nur Jelineks Werk ist ausufernd, sondern weit mehr noch die Sekundärliteratur dazu. Das von Pia Janke gegründete Elfriede-Jelinek-Forschungszentrum nutzt elektronische Medien für seine philologischen Zwecke und stellt die Ergebnisse im Netz zur Verfügung: www.elfriede-jelinek-forschungszentrum.com/.
JeliNetz. Ein weiteres Tool des Zentrums ist der Blog „jelinetz.com“. Dort sind inzwischen tausende Einträge zur Dichterin verfügbar – das Spektrum reicht von wissenschaftlichen Beiträgen über simplere Interpretationen und Übersetzungsarbeiten bis zu künstlerischen Projekten. Die Suchbegriffe „Votivkirche“ und „Lampedusa“ bringen dort bis jetzt allerdings keine Ergebnisse, nicht einmal bei „Die Schutzbefohlenen“ wird man fündig, jedoch mehrfach bei „Heidegger“ und sogar einmal bei „Aischylos“. Es ist allerdings nur eine Frage der Zeit, bis sich auch in der Sekundärliteratur zu diesen Schlagworten weitaus mehr an Text findet, als man ihn bereits von der Primärquelle gewohnt ist.
Leben/Werk
Elfriede Jelinek kam am 20. 10. 1946 in Mürzzuschlag auf die Welt. Mit 13 wurde sie ins Konservatorium der Stadt Wien aufgenommen. Sie studierte zudem einige Semester Kunstgeschichte und Theaterwissenschaft.
1968 vollendete sie ihren ersten Roman, „Bukolit“, der 1979 publiziert wurde. Ein Dutzend weitere Romane folgten sowie Lyrik, Erzählungen, Essays und mehr als 30 Dramen. APA/Schlager
("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.03.2015)