Burgtheater: Teuflische Lücken in Labiches irrem Lustspiel

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Barbara Frey inszeniert "Die Affäre Rue de Lourcine" als einen bürgerlichen Abgrund. Fünf tolle Komödianten zelebrieren diesen Einakter manchmal wie in Zeitlupe, bleiben aber stets kurzweilig und unterhaltsam.

Das Publikum in den Premieren des Burgtheaters ist an sich ausgesprochen beflissen. Sittsam lauscht es hermetischen Texten der Gegenwart, sieht sich ohne Murren die schwersten werktreu inszenierten Klassiker an. Richtig wohl aber scheint es sich zu fühlen, wenn das Bürgertum in einer leichten Komödie kurzweilig verhöhnt wird, am besten in einem bewährten Stück aus Frankreich, ohne Pause, in der Länge einer „Tatort“-Folge. Das erwies sich so auch am Samstag bei der Premiere von „Die Affäre Rue de Lourcine“ aus dem Jahre 1857.

Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek hat das mit Musik unterlegte Lustspiel Eugène Labiches souverän übersetzt und angereichert, Barbara Frey, die Intendantin des Schauspielhauses Zürich, hat die Chose raffiniert geradlinig inszeniert, in einem für solche Einakter untypisch gedrosselten Tempo. Aber es wirkt. Fünf komödiantische Meister des Burgtheaters haben dabei ihre Stärken ausgelebt – ein einfaches Erfolgsrezept, das auf Monate für ein volles Haus sorgen dürfte. Selten sah man Zuseher so entspannt und dennoch aufmerksam wie am Samstag. Vereinzelt wirkte ihr Lachen jedoch wie die Befreiung von tief sitzenden Ängsten.

Zur Handlung: Der Rentier Lenglumé (Nicholas Ofczarek) wacht nach durchzechter Nacht derangiert auf, in der Hose, mit dreckigem Hemd. Sein Diener Justin (Markus Meyer) klaubte zuvor missmutig die Garderobe auf, ging sie reinigen: zwei Fräcke, zwei Westen, zwei Paar verdreckte Schuhe. Der Hausherr hatte sich nämlich gegen den Willen seiner Frau Norine (Maria Happel) zu einem Schul-Treffen davongestohlen, und der Abend ist entgleist. Lenglumé bleiben Erinnerungslücken. Da bemerkt er, dass in seinem Bett der einstige Schulkollege Mistingue (Michael Maertens) liegt, auch er noch in der Hose, das beschmutzte Hemd hängt raus.

Das tote Mädchen, Indizien für Mord

Nun beginnt eine Re- und Dekonstruktion. Was war geschehen? Die Gattin liest aus der Zeitung vor, dass in der Rue de Lourcine eine tote Kohlen-Trägerin gefunden wurde – ermordet. Neben ihr lag ein Schirm mit Affenkopf und ein Taschentuch mit Monogramm. Genau diese Gegenstände vermissen die beiden Saufkumpane. Weitere Indizien tauchen beim Frühstück auf: Ein Damenschuh muss beseitigt werden, eine blonde Locke, ein Strumpf. Vor allem aber: In den Hosentaschen haben die Herren Kohlenstaub. Ungelenk sind ihre Versuche, sich reinzuwaschen. Und Lenglumés Vetter Potard (Peter Matić) setzt diesen weiter unter Druck, indem er andeutet, zu wissen, was geschah. Lenglumé fühlt sich erpresst, die Gattin drängt, der Diener ist frech. Eine ideale Konstellation für Dauerkomik, die hier lustvoll in Betrieb geht. Alle fünf Darsteller spielen ihre Stärken aus.

Wie in Zeitlupe zelebriert Ofczarek seine Paraderolle. Er schlurft beinahe bewusstlos über die Bühne, stiert, brabbelt, zieht sich unter Mühen an, spielt perfekt einen Typen, wie man ihn von ihm erwartet. Manchmal blitzt das Gemeine auf. Auch Happel ist als Typ ähnlich grandios, allein durch ihr Trippeln und Wackeln, dazu kommen noch das Schnippische und ein Schuss Falschheit. Zwei Publikumslieblinge geraten in Fahrt. Noch besser aber gefällt Maertens, wohl auch, weil er sich etwas zurücknimmt. Auch er vermittelt mit allen Sinnen das Grauen vor der Lücke der vergangenen Nacht, in Perfektion, mit einer Andeutung von Understatement. Das gilt ebenso für Matić als leicht unheimlichem Gast, und Meyer macht die Dienerrolle zum Kabinettstück der Subversion.

Das Spiel funktioniert auch deshalb so gut, weil die Bühne raffiniert gestaltet ist, eine Art Potemkinsches Bürgerhaus. Schmal erstreckt sich das Speisezimmer über die ganze Breite, hoch oben hängt ein Luster mit kleinen Skeletten, links ist ein großer Müllberg, der öfter durch Säcke ergänzt wird. Dort bewegt sich manchmal was. Dann tritt die Dame des Hauses dagegen oder sticht mit einem Spaten rein, bis sich nichts mehr rührt. Hier gibt es offenbar einige Leichen zu verbergen. Diese Idee der Regie bleibt ein Rätsel. Das passt zum Abgründigen. Das Speisezimmer wird hinten durch eine Tapetenwand abgeschlossen, in ihr befinden sich sechs große Flügeltüren, die ins Reich des Surrealen führen. Öffnet man eine, gibt es manchmal eine Überraschung. Tür auf: ein Schlafzimmer. Tür zu. Hinter derselben aber enthüllt sich später vielleicht ein Badezimmer, ein Schrank, der von Aktenordnern überquillt oder in dem Totenköpfe dicht gestapelt sind. Tür auf: ein Kabinett mit Alkoholika, aus denen sich alle großzügig bedienen. Eine Treppe führt rechts steil nach unten, eine hinten endlos nach oben. Alles nur bürgerliche Fassade. Am Ende, als der Hausherr nach Auflösung des Falles alle Flügel weit öffnet, blicken er und die Zuseher ins Nichts. Alles schwarz! In diesem finalen Vergessen verschwindet Lenglumé dann auch.

Eugène Labiche wurde am 6. Mai 1815 in Paris geboren, er starb dort 1888. Seine Dutzenden Lustspiele gelten als stilbildend. Der Einakter „Die Affäre Rue de Lourcine“ wurde am 26. März 1857 am Théâtre du Palais-Royal in Paris uraufgeführt. Die deutsche Übersetzung und erweiterte Neufassung von Elfriede Jelinek wurde erstmals 1988 an der Schaubühne in Berlin aufgeführt.

Regie: Barbara Frey; Bühnenbild: Bettina Meyer; Kostüme: Esther Geremus; Licht: Friedrich Rom; Manfred Kouril; Musik: Tommy Hojsa. Dramaturgie: Amely Joana Haag. Termine: 21., 24., 26. April, 2., 8., 14., 17., 27. Mai.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.04.2015)

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