„Gimme Shelter“: Neue Heimat auf der Bühne

(c) Christine Pichler
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In dem Stück „Gimme Shelter“ stehen junge Flüchtlinge auf der Bühne. Eine politische und humanitäre Botschaft wohnt dem Projekt unweigerlich inne.

Sie sind in erster Linie Schauspieler, Tänzer, Sänger, Performer. Dass sie aus ihren Heimatländern flüchten mussten, dass sie alles liegen ließen, um in Österreich ein neues Leben aufzubauen, war einschneidend – ihre Persönlichkeit definiert das aber nicht. Ali, Javid, Maryna, Aleksandra sind Flüchtlinge, die in Wien leben. Und auftreten: Das Stück „Gimme Shelter“ ist als Kooperation der UN-Flüchtlingsbehörde UNHCR mit der Jungen Burg, der Jugendschiene des Burgtheaters, entstanden. Rund 25 Flüchtlinge aus verschiedenen Ländern erzählen darin vom Aufbrechen und Ankommen, von Ungewissheit, Angst und Hoffnung. Kurz: die Geschichte einer Flucht. Eine Geschichte, die sie – auf die eine oder andere Weise – selbst erlebt haben.

Und die eben doch nicht alles ist, was sie zu erzählen haben. „Ich bin seit zwei Jahren in Österreich. Als ich ankam, wollte ich zuerst Fotograf werden. Dann wollte ich Performer werden. Ich mache auch Videos. Daneben habe ich so viele Hobbys!“, antwortet etwa Mohammed Ali Jeetaria auf die Frage nach seiner Geschichte. Der 20-Jährige kommt ursprünglich aus dem Irak, ist aber in Syrien aufgewachsen. „Dort wird alles schlimmer und schlimmer“, sagt er eilig, auf seine Flucht angesprochen. Lieber redet er über das Fotografieren und Theaterspielen.

Auch Sayyed Javid Hakim, 23, aus Afghanistan hat mehr zu erzählen als von seiner Flucht. Mit fünf Jahren zog er mit seiner Familie in den Iran. Neben der Schule besuchte er Filmkurse, lernte, Kurzfilme zu produzieren und Drehbücher zu schreiben. Sein eigenes Filmprojekt konnte er aber nicht fertigstellen, nach seiner Matura zog die Familie zurück nach Afghanistan, vor eineinhalb Jahren kam sie schließlich nach Österreich. Hier hat ein Tanzlehrer sein Talent entdeckt, außerdem hat er sich für eine dreijährige Schauspielausbildung beworben. Auch mit dem Filmen will er weitermachen. Warum er Afghanistan verlassen musste? „Der Krieg hat alles zerstört. Wir haben jetzt so viele verrückte und dumme Leute wie die Taliban in Afghanistan. Sie bereiten jedem große Probleme, der eine andere Meinung als die ihre verbreitet. Ich will nicht alles erzählen, aber das ist mir und meiner Familie passiert.“

Spaß beim Schuhplatteln. „Bis heute haben einige ihre Geschichte gar nicht erzählt“, sagt Peter Raffalt, während er im Proberaum am Lusterboden des Burgtheaters seinen Schützlingen beim Tanzen zusieht. Raffalt leitet gemeinsam mit seiner Frau Annette die Junge Burg und führt Regie bei „Gimme Shelter“. Das Stück ist eine Collage aus Schauspiel, Gesang, Tanz und Sprechchor, sagt Raffalt. Auf ironisierte und überhöhte Weise wird von einer Flucht und von den Problemen mit den Behörden erzählt. Einige Beiträge haben die Jugendlichen selbst vorgeschlagen – etwa Lieder und Geschichten in ihrer Muttersprache –, anderes hat Raffalt aus vorhandener Literatur zusammengesammelt. Das Projekt läuft seit Herbst, vier Stunden pro Woche wurde seither geprobt. Die jungen Flüchtlinge wurden vom UNHCR vermittelt, der Theaterkurs kostet sie nichts, für die Infrastruktur und die Betreuung kommt das Burgtheater auf. Einige haben bereits Bühnenerfahrung, andere gar nicht. Am Anfang sei es ein ständiges Kommen und Gehen gewesen, dann habe Raffalt einen Stichtag gesetzt: „Wer jetzt noch gehen will, kann gehen.“ Zurück blieb eine Kerngruppe von etwa 25 Teilnehmern, die jetzt zu Hubert von Goiserns „Hiatamadl“ einen Paartanz inklusive Schuhplattler-Einlage probt. Dabei geht es vergnüglich zu: Man pikst sich im Vorbeigehen gegenseitig in den Rücken, es wird gelacht und geblödelt. Als sich die Tanzpaare trennen und wieder zusammenfinden, stehen wohl ein paar Akteure falsch: Zwei Burschen bleiben übrig, die jetzt miteinander tanzen müssen und kichernd versuchen, wieder in den Rhythmus zu finden.

Die neunjährige Aleksandra Tkachenko Galoyan ist die jüngste Teilnehmerin, sie lässt sich beim Tanzen von ihrem Partner über das Parkett tragen. An die Flucht aus Armenien vor eineinhalb Jahren kann sie sich kaum erinnern. „Meine Mama ist Opernsängerin und wollte, dass wir hier aufwachsen“, sagt sie. Das Mädchen mit den großen Augen und knielangen Haaren spricht perfekt Deutsch, geht gerne in die dritte Klasse einer Wiener Volksschule und möchte, wenn es groß ist, ein Restaurant in Paris eröffnen. Im Stück spielt sie „ein normales Mädchen“, singt und sagt ein russisches Gedicht über die Matroschka-Puppe auf. Wenn sie auf der Bühne steht, strahlt sie über das ganze Gesicht.

Maryna Sychova aus der Ukraine erzählt im Stück von ihren eigenen Erlebnissen. Die heute 26-Jährige hat in der Ukraine Sportwissenschaft studiert, war Schwimmerin im Nationalteam und Siegerin im X-Triathlon. Weil sie 2010 ein Video über Wahlfälschungen ins Internet stellte, bekam sie politische Probleme: „Ein Unbekannter hat mich angerufen, erpresst und mir gedroht, dass mir oder meine Familie etwas passieren würde.“ Vor drei Jahren beschloss sie schließlich, zu fliehen. Ihre Mutter, ihr Bruder und seine Familie folgten ihr nach Österreich. Wo ihr Vater gerade ist, weiß sie nicht. „Ich denke, es ist alles in Ordnung, aber ich weiß es wirklich nicht. Manchmal habe ich Angst, darüber zu sprechen, manchmal will ich der ganzen Welt meine Geschichte erzählen.“

Im Moment wartet Sychova auf ihren Asylbescheid und lernt Deutsch. Theaterspielen ist ihr liebstes Hobby. Sie hat große Angst, in die Ukraine zurückgeschickt zu werden. „Das Problem in der Ukraine ist, es ist kein offizieller Krieg. Europa kann den Krieg anerkennen oder nicht – trotzdem geht er jeden Tag weiter und unschuldige Zivilisten und Kinder sterben.“

„Entschuldigt!“ Raffalt lässt die Jugendlichen am Boden zusammenkriechen, sie sollen sich vorstellen, sie säßen zusammengepfercht in einem Lastwagen. „Entschuldigt, dass wir hier sind, dass wir eure Luft einatmen, dass wir euch im Weg stehen“, lässt er sie im Sprechchor aufsagen. Einige der Flüchtlinge konnten am Beginn des Projekts noch kaum ein Wort Deutsch, jetzt tragen sie in dieser Sprache Texte auf der Bühne vor. Die Sprachbarriere sei nie ein Problem gewesen, sagt Raffalt, im Gegenteil: Durch die anfänglichen Missverständnisse habe die Gruppe viel gelacht und sei sich so näher gekommen. Die Teilnehmer seien auch privat Freunde, organisieren sich über Facebook und gehen am Wochenende gemeinsam grillen.

Im Herbst will Raffalt vielleicht einen weiteren Durchgang mit neuen Teilnehmern starten. Warum er das überhaupt macht? „Diese Frage erübrigt sich, wenn man sieht, welche Flüchtlingsströme nach Europa überschwappen.“ Das Projekt habe auf jeden Fall eine politische Botschaft, sagt Raffalt. Das Theaterspielen sei für die Flüchtlinge eine Art Selbstbestätigung, es gebe ihnen Aufmerksamkeit, fördere die Gruppenbildung. „Es ist eine Form der Integration auf künstlerische Weise, ohne Druck und Zwang.“

Tipp

„Gimme Shelter“ ist ein Projekt von Burgtheater und UNHCR und wird ab 19. Juni als Teil des „Junge Burg Festivals“ im Kasino am Schwarzenbergplatz aufgeführt. Es spielen junge theaterbegeisterte Flüchtinge aus verschiedenen Ländern. burgtheater.at

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