Festwochen: Testosteron dampft zu gutem Zweck

(c) Wiener Festwochen
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Die brasilianische Grupo de Rua beeindruckt im Museumsquartier mit der Hip-Hop-Variation „H3“.

In Menschenmengen erlebt man oft diese Mischung aus Energie und Bedrohung. Elias Canetti hat darüber in „Masse und Macht“ geschrieben. Nur neun Tänzer sind bei „H3“ in der MQ-Halle G.

Es geht um Hip-Hop, eine Musik und ein Lebensgefühl. Sein wichtigstes Kennzeichen ist eine auf mehr oder minder raffinierte Weise inszenierte Spontaneität wie z.B. im Rap. Die frühe Hip-Hop-Entwicklung in den Siebzigern war von den DJs geprägt. Sie manipulierten Tonträger, etwa durch Backspinning: Zur Wiederholung eines bestimmten Abschnitts wird die Platte schnell rückwärts gedreht. Auch die brasilianischen Tänzer bewegen sich in der Choreografie ihres „Masters“, des ehemaligen Straßentänzers Bruno Beltrão (29), rückwärts, und zwar rasend schnell. Als minimalistisch und konzeptuell wird die „Grupo de Rua“ (Straßengruppe) beschrieben. Das klingt abschreckend. Zum Glück ist sie nichts davon, sondern faszinierend lebendig.

Die Tänzer vollführen eine Art Schaukampf. Sie verrenken sich in Zeitlupe. Das sieht aus wie in Filmszenen, wenn einer erschossen wird. Sie springen aufeinander zu, werfen die Beine, verfehlen einander nur knapp. Sie versammeln sich wie Straßengangs und verschwinden im Dunkeln. Sie hocken am Rand der schwarzen Bühnenfläche. Könnte ein Parkplatz sein, aber auch ein nächtlicher Strand. Beltrão stammt aus Niterói, einer Satellitenstadt von Rio am Meer.

Die vielen Chancenlosen dieser Welt

Das rituelle Imponiergehabe junger Männer, die um sich eine von Testosteron geschwängerte Luft verbreiten, die sich mit Schweiß mischt, gibt es überall. Die Erotik hält sich allerdings in Grenzen, denn diese Künstler repräsentieren wohl die von Jacques Brel bzw. Michael Heltau besungenen Chancenlosen dieser Welt. Ihre virtuosen Bewegungen, die unterdrückte Wut signalisieren, wirken wie eine tänzerische Illustration zu den Stücken eines Bernard-Marie Koltès oder einer Sarah Kane. Beide sind jung gestorben. Koltès beschrieb das Leben an den Rändern der Zivilisation, die so dünn ist wie Papier, Gewaltausbrüche: Jederzeit möglich. Auch Kanes Stücke scheinen in einem schwebend dunklen Nirgendwo voll tödlicher Gefahren angesiedelt. Man denkt an diese Städte, in denen man um die Ecke biegt und plötzlich in einer anderen Welt ist, auf einem Nachtmarkt, unter Drogendealern, bei einem Straßenfest. Jählings fällt der Sicherheitspegel ab.

All das macht diese multikulturelle brasilianische Tanztruppe, die meist vor dem Hintergrund von Straßenlärm agiert, weitaus deutlicher als die Jungs aus den Favelas, die im Vorjahr bei den Festwochen zu Gast waren. Hip-Hop kann vielleicht auch als Form diffuser globaler Opposition gesehen werden. Wie heißt es doch in einem Lied der provokanten schwarzen Rapper „Public Enemy“? „It takes a nation of millions to hold us back.“ (Die überbelichteten Fotos sagen leider wenig über die sinistre Aura von „H3“ aus; bis 14.5.) bp

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.05.2009)

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