Steirischer Herbst: Umgraben in Stadt und Land

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Zum Auftakt des Steirischen Herbsts, der sich heuer dem Motto »Back to the Future« verschrieben hat, wurde »Specter of the Gardenia oder Der Tag wird kommen« von Josef Winkler und Johannes Maria Staud begeistert aufgenommen: Eine Expedition in die Erinnerung – sie lohnt auch an anderen Schauplätzen.

„Zu viele Noten, Herr Mozart“, spricht Kaiser Josef II. zum Komponisten – dieser antwortet: „Gerade so viele, wie nötig sind, Majestät.“ Der Wortwechsel stammt aus Miloš Formans „Amadeus“-Film von 1984. Man denkt daran, wenn man der Musik des experimentellen Johannes Maria Staud lauscht, der die Flucht aus der Harmonielehre anzutreten scheint. Staud illustrierte Josef Winklers „Specter of the Gardenia oder der Tag wird kommen“. Die bejubelte Uraufführung hat Freitagabend in der Grazer Helmut-List-Halle zur Eröffnung des Steirischen Herbsts stattgefunden – der sich heuer dem Motto „Back to the Future“ verschrieben hat, in Erinnerung an Robert Zemeckis Science-Fiction-Film von 1985, in dem es um eine Zeitreise geht. „Vom Rechte, das mit uns geboren ist, von dem ist leider nie die Frage“, heißt es in Goethes „Faust“. Nicht nur vom Recht.

Jede Generation kämpft außer mit der Gegenwart noch mit der Vergangenheit und der Zukunft. „Menschenkind“ Josef Winkler wählte für seine Betrachtung über dieses Thema ein Werk des französischen Surrealisten Marcel Jean (1900–1993) – und ein Gedicht Paul ?luards, ebenfalls ein bekannter Surrealist. Das Gedicht schrieb ?luard erst für seine Frau, nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ersetzte er die Frau durch die Freiheit. „Specter of the Gardenia“, heute im New Yorker Museum of Modern Art, ist eine Skulptur: Die schwarze Frau, die Reißverschlüsse in den Augen hat, trägt eine Filmrolle um den Hals. Das Werk, bei dem man heute zunächst an den Kolonialismus denkt, der alte Kulturen vernichtet hat, wirkt auch wie ein Totem, verweist auf Verdrängtes. „Kaum öffne ich den rechten Reißverschluss unter den Augenbrauen, beginnen die körnigen, farbigen Filmbilder zu zucken“, heißt es in Winklers Text. Als Bub erfährt er vom Tod des Papstes, den er gerade eben noch – was ist Zeit? – auf dem Petersplatz in seiner Sänfte gesehen hat: „Oma! Da Popst is gstorbn!“ erzählt er aufgeregt seiner 90-jährigen Großmutter, wenige Monate später ist auch sie nicht mehr.

Schmährede. Als Litanei und große Beschimpfung („Ihr Erdöl-Gesellschaft, Ihr Aufpasser unserer Tragödie!“) kann man Winklers Monolog lesen, aber er bietet noch anderes: In 90 Minuten erlebt das Publikum ebenfalls eine Zeitreise, einst schien alles echt und karg, jetzt ist alles üppig und virtuell. Das Kind traut seinen Eindrücken, auch wenn sie surreal sind wie „der Radau der Milchglasscheiben in der Bauernstube, als der Vater mit dem Tod rang“. Der Erwachsene wird von früh bis spät beschallt, bombardiert mit Bildern, wem, auf was kann er noch vertrauen?

Johannes Silberschneider stemmt unverkrampft und mit einem herrlich erdigen Ton den wuchtigen Text, kann sich aber gegen Stauds hyperaktive Rhythmen nicht immer durchsetzen. Einmal verschwindet Silberschneider in einem überdimensionierten Metronomkasten, aber er lässt sich nicht unterkriegen. Meine stärkste Erinnerung an Winkler ist eine Lesung im Radio. Ich horchte atemlos und gebannt dieser zornigen Stimme aus einer fernen und doch bekannten Welt. Aber heute geht es nicht ohne Illustration, ohne Musik. Staud ist gewiss ein äußerst origineller Komponist, das Ensemble Modern folgt Dirigent Emilio Pomárico präzise, aber die Frage, wie Winklers Text pur wirken würde, stellt sich doch. Neben Stauds Klängen und Winklers Worten ist an diesem Abend noch ein weiteres Kunstwerk zu bewundern: Franziska Sauers Motive des Surrealismus montierender Film, der an aktuelle Ereignisse erinnert, vor allem an das Flüchtlingsdrama im Burgenland, bei dem im August über 70 Tote in einem Lkw gefunden wurden.

Im Film sieht man die Untersuchung von Skeletten, die wie im Naturmuseum in Holzrahmen gebettet sind, einer der Forscher übt den Totentanz mit einem der Skelette. Interessant, aber ein wenig zu viel, ein Overkill an Eindrücken, die Ohr, Auge, Herz bestürmen, ist hier zu erleben. Was nehmen wir von der Vergangenheit in die Zukunft mit, was bleibt von uns, wenn es etwa statt Stein, Papier nur mehr elektronische Datenträger gibt? Das und vieles andere wird der Steirische Herbst heuer untersuchen, wie Intendantin Veronica Kaup-Hasler ausführt.

Flüchtlingsströme. Was war für sie die prägende Zeitreise? In den 1970er-Jahren wäre sie oft in die DDR zur Familie ihrer Mutter gefahren, hier schien die Zeit stillzustehen, mit Grenzkontrollen und einer Atmosphäre, „die an die Weimarer Republik“ erinnerte. Kaup-Haslers Familie verließ die DDR 1970. Wie beurteilt sie die derzeitigen Flüchtlingsströme? „Die EU sollte sich auf ihre Werte besinnen. Ihre Außenpolitik hat auch einen Anteil an der Katastrophe. Die größten Flüchtlingsbewegungen gibt es nicht in Europa, sondern in Asien und Afrika. Das sollte man nicht vergessen.“ Der Steirische Herbst, der heuer in die nationalen Geschichtsschreibungen und ihre Bedeutung für die Wahrnehmung der Welt hineinleuchten wird („In Ungarn werden die Schulbücher umgeschrieben“, so Kaup-Hasler), wirkt, zumindest nach dem Eröffnungswochenende zu schließen, interessanter und aktueller als gelegentlich in früheren Jahren, als erfinderische Mottos durch das Programm nicht immer eingelöst wurden.

In der „Hall of Half-Life“ im Graz-Museum versammelte die aus Neuseeland stammende Kuratorin Tessa Giblin Arbeiten von Künstlern, die sich multimedial mit Verborgenem und Verschwiegenem beschäftigen, unter ihnen Harun Farocki, der Gedenkstätten besuchte, Sam Keogh, der Moorleichen in Beziehung zu unserem Alltag voller Ramsch setzte, Peter Galison und Robb Moss, die einen Film über Tsunamis, das Leben nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima und Atommüll-Lagerung in den USA drehten. Hier wird eine echte Zeitreise – abseits der Medienwelt – geboten. Die meisten Werke sind Auftragsarbeiten des Festivals, einige befassen sich mit dem Ort, dem Schlossberg. Auch in ehemalige steirische Industriegebiete wie Vordernberg, Leoben führt die Schau. Der Steirische Herbst, der bis 18. 10. dauert, erkundet auch das Land – und gräbt nicht nur die Hauptstadt um.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.09.2015)

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