Versunken im Meer der Assoziationen

FOTOPROBE ´DER FLIEGENDE HOLL�NDER´
FOTOPROBE ´DER FLIEGENDE HOLL�NDER´(c) APA/WERNER KMETITSCH (WERNER KMETITSCH)
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Theater an der Wien. Die Urfassung von Wagners „Fliegendem Holländer“ unter Marc Minkowski, inszeniert von Olivier Py: eine Produktion, der es an szenischer Konsequenz und musikalischer Geschlossenheit fehlt.

"Erlösung“: Die junge Frau, die atemlos hereingehetzt ist, schreibt das Wort mit Kreide auf eine Bretterwand, die über die ganze Breite verläuft. Ist es das, was sie sucht? Gute zwei Stunden später, wenn sich die Welt hinter den Brettern, die auch hier offenbar die Welt bedeuten, wieder geschlossen hat und wir Zeugen eines rätselhaften Geschehens geworden sind, das ein immer dicker werdendes Fragezeichen hinter den Begriff zu malen schien, steht da plötzlich: „Erwartung“. Damit entlässt uns Regisseur Olivier Py in die Wirklichkeit nach seiner Deutung von Wagners „Fliegendem Holländer“ – oder besser: einem Konglomerat von Ideen und Assoziationen zum Thema, die zwischen Realität und Fiktion, Spiel und Wirklichkeit pendeln. Statt die Geschichte erhellend, interpretierend oder überhaupt irgendwie zu erzählen, liefert er symbolträchtige Bilder und wirft damit neue Fragen auf.

Tod? Satan? Inzestuöser Missbrauch?

Hat sich die Frau, Senta, in ein Theater gerettet? Da saß ein Mann (Pavel Strasil) an einem Schminktisch, färbte sich Gesicht und nackten Oberkörper schwarz: der Tod? Oder der Satan, auf den der Text immer wieder zurückkommt? So weist ihn immerhin der Besetzungszettel aus. Mehrfach mischt er sich tanzend unter die Protagonisten, scheint sie an unsichtbaren Fäden zu gängeln – bleibt aber für einen alles beherrschenden Spielmacher letztlich zu unbedeutend. Flieht Senta vor inzestuösem Missbrauch? Ein Tausch von Hut und Mantel, den ihr Vater und der Holländer vollziehen, die einander in ihrem Handlungsreisenden-Outfit ohnehin bis aufs Haar gleichen, scheint so etwas nahezulegen, worauf der Fremde in dieser (Traum-?)Szene des ersten Akts sogleich zur völlig verängstigten, nackten Tochter ins Bett steigen will: Allerlei Andeutungen häufen sich, konsequent durchgezogen wird jedoch wenig.

Bis auf den Einsatz der Drehbühne. Ausstatter Pierre-André Weitz setzt die Bretterwand bald in Bewegung, sie entpuppt sich als Seite einer Architektur, die von außen betrachtet wie auf einen Schiffsbug zuläuft, innen aber eine Spielfläche freigibt, die sich durch ansteigenden Boden und abfallende Decke perspektivisch verkürzt. Das Ganze kann aber auch, in Teile zerlegt, eine komplex verwinkelte Wohnlandschaft ergeben: Tür auf, Tür zu, treppauf, treppab liefern einander die Figuren Verfolgungsjagden. Und wenn Senta die (für sie wohl allzu) gutbürgerlichen tenoralen Avancen Georgs abwehren muss, steht sinnigerweise ein fast raumfüllendes, den Dialog behinderndes Haus im Zimmer, dessen kleinere Ausgabe ihr Vater Donald zuvor herumgeschleppt hatte.

Georg? Donald? Ja, Marc Minkowski dirigiert die pausenlose Urfassung von 1841, also noch ohne die Änderungen, die Wagner für die Uraufführung 1843 vorgenommen hat. Abgesehen vom Schauplatz Schottland statt Norwegen unterscheidet sich diese wenig vom Gewohnten, zumal der erst 1860 nachkomponierte, an „Tristan“ gemahnende „Erlösungsschluss“ von Ouvertüre und Oper bei Neuproduktionen heutzutage ohnehin selten verwendet wird. Dass sich Minkowski in seinem Repertoire durchaus nicht auf Barock und Klassik beschränkt, konnte er sogar am Theater an der Wien schon zeigen: 2012 hat er hier, auch damals mit Py als Regisseur, einen eindrucksvollen „Hamlet“ von Ambroise Thomas erarbeitet. Wagners Ur-„Holländer“ hat er ebenfalls bereits dirigiert und, wie schon Bruno Weil, auch aufgenommen.

Spannungsbogen stürzt wieder ein

Für einen aufregenden Abend reicht das aber so wenig wie das zupackende Spiel der aufgestockten Musiciens du Louvre, deren Rauheit (und Unfallgefahr) etwa bei exponierten Bläserstellen man wohlwollend als Hinweise auf Wagners gewagte Instrumentierungsideen zur Kenntnis nahm. Denn den stürmischen Elan der Ouvertüre konnte oder wollte Minkowski nicht aufrechterhalten, verliebte sich in den langsamen Nummern in die koloristischen Details – und schleppte. Auch in den Duetten Donalds und Sentas mit dem Holländer stürzte der Spannungsbogen immer wieder ein. Divergierend auch die Sängerbesetzung: Samuel Youn wirkt eher gemächlich als leidend oder dämonisch und kann die Titelfigur nicht im Klang zeichnen, sondern muss für intensivere Momente die ohnehin oft brüchige Gesangslinie verlassen.

Wie belcantesk der frühe Wagner klingen kann, demonstrierten dagegen Bernard Richter als inbrünstiger Georg und auch Manuel Günther als Steuermann. Ingela Brimberg ist eine Kämpfernatur – vor allem, was die unbarmherzigen Höhenanforderungen der Ur-Senta anlangt: keine Glanzleistung. Und als schmierig-selbstgefälliger Donald schien Lars Woldt von Beginn an die ganze Arena di Verona beschallen zu wollen – ein Vorbote der manchmal fast explosiven Kraft des Arnold Schoenberg Chores.

Erlösung? Erwartung? Jedenfalls eine leise Enttäuschung.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.11.2015)

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