Uraufführung: Handkes Wachtraum zwischen den Dörfern

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Am Burgtheater wirbelt Claus Peymann das Drama "Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße" kunstvoll auf. Christopher Nell ist als Protagonist souverän, kongenial dazu Schwab, Happel und Fritsch.

Peter Handke hat vor der Uraufführung seines neuen Stückes, „Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße“, verraten, dass er beim Verfassen an den Weg zwischen seinem Kärntner Heimatort Griffen und dem Nachbardorf Ruden gedacht habe. So also sah sie aus, diese Landstraße, am Samstag im Wiener Burgtheater in der Inszenierung von Claus Peymann: Bei offenem Vorhang öffnet sich in der Mitte der riesigen Bühne ein zweiter, luftiger Stoff, auf der von Karl-Ernst Herrmann gestalteten schiefen Ebene ist ein helles, manchmal beleuchtetes Band zu sehen, als bloße Kurve in abstrakter Landschaft, die zu einem Endspiel von Samuel Beckett passen würde: Warten auf die Unbekannte.

Dort auf der Straße ist das Ich unterwegs, Christopher Nell spielt es souverän, als fesche Variation des Dichters in jungen Jahren, mit Accessoires des Wanderers Handke aus späterer Zeit. Er gerät unter die Unschuldigen mit ihrem Wortführer (Martin Schwab) und ihrer Wortführerin (Maria Happel). Später begegnet er der geheimnisvollen Unbekannten (Regina Fritsch). Nell versteht es vom ersten Monolog an, dem dichten, dunklen, auffällig mit Sätzen aus der Weltliteratur spielenden Text Luftigkeit, zuweilen Witz, verlässlich Tiefe zu geben – mit heller Stimme, singend, tänzelnd, denkend. Schwab und Happel als seine „unschuldigen“ Widerparts sind besonders in der Komik stark. Da wird getrippelt, gekämpft und gestaunt. Eine zauberhafte, seltene Erscheinung ist Fritsch – prägnant und unheimlich präsent.

„ . . . ein jeder geht anders . . . “

Peymann garniert den Erzählstrom mit bewährten Effekten – Vogelgezwitscher, Donner, Blitz und Schnee, ja sogar mit einem veritablen Sturm. Da saust und braust es, da wirbeln die Blätter, auch schwarz verkohlte. Fast wie im Film. Gleich am Anfang taucht aus dem Boden eine desolate Bushaltestelle auf, Schild, Bank und Unterstand, eine alte Erinnerung und zugleich das Lager für den Erzähler, auf dem er geschickt herumturnt.

Was will das magische und auch wahnsinnige Ich auf diesem „letzten freien Weg in die Welt“? Es gilt, diese Passage zu verteidigen, gegen die ignoranten Unschuldigen mit ihrem Fimmel für mobile Telekommunikation und Konsum, gegen allerlei Schnurren dieser gewöhnlichen Leute, die so viel übersehen, was das Ich im Blick hat. Sie sind für den gereizten Erzähler Landstraßenokkupanten. Ganz anders sieht er die mysteriöse Frau in Schwarz. Sie ist „die Erhoffte, seit jeher Ersehnte“ auf diesem letzten Weg. Sie wird ihm später sagen: „Die einen gehen so, die anderen gehen so, ein jeder geht anders“ – eine befremdende Feststellung. Das längst Entwöhnte passt zur Grundstimmung hier, in einem Motto ist sie im Buch angedeutet – „Go sleep and hear us“ aus William Shakespeares „The Tempest“. Alles nicht wahr! Handkes gespaltenes Ich, das zudem auch noch einen lästigen Doppelgänger hat, denkt an „Hellträumen. Umfassend träumen. Verbindlich! Freiträumen.“

Die Poesie am Rand der Wörter

Im ersten, rund hundert Minuten langen Teil bietet die Regie allerlei Tricks auf, mechanische wie choreografische, um den Monolog des Icherzählers bei seinen Begegnungen mit der Außenwelt bildkräftig zu unterstützen. Da ist viel Rennen und Gedränge, man spürt die Aggression des Erzähler-Ichs, das sich an Geringfügigem erregt wie an Wesentlichem, das sich daran philosophisch am Rand der Wörter abarbeitet. Findet er Zettel, etwa Prospekte oder private Notizen, macht er aus zufälligen Sätzen gefundene Gedichte. Passiert er Passanten, wird er oft rabiat.

Nach der Pause, für knapp eine Stunde, fokussiert diese Inszenierung noch stärker auf das dominante Quartett, während die Übrigen sich zum Leichenzug formieren, als ob sie apokalyptischen Bildern von Hieronymus Bosch oder Pieter Bruegel entsprungen wären. Einem kurzen Gefecht mit Stecken folgt fast versöhnliche Nachbarschaft. Das sind großartige Szenen von Nell und Schwab. Happel liefert ein Meisterstück an Lust und Spiel, das zur Todesfuge wird. Fritsch stößt als nunmehr erkannte Unbekannte das Ich buchstäblich vor den Kopf, fesselt es, weist es auf das Vergangene und das Vergängliche hin. Eros trifft Thanatos.

Das Ende wird in feinen Abstimmungen zelebriert. Jetzt fügt sich alles traumhaft zu großen Illusionen. Am Schluss, nach 171 Seiten Text (für die Aufführung wurde er merklich gekürzt), fragt sich das komplexe Ich, ob es denn gehe, dass in einem Traum der Träumer nicht nur das erste, sondern auch das letzte Wort habe – „ . . . in einem Wachtraum: Ja! – Ach, ja. Ach, ja!“ Lang anhaltender Applaus nach gut drei Stunden. Handke (*1942) und Peymann (*1937) haben ihn sich so wie alle Beteiligten redlich verdient.

Mysteriöses Rockkonzert alter Meister

Es verbindet die beiden alten Meister eine unglaubliche Geschichte. Vor einem halben Jahrhundert haben sie sich gefunden: Durch „Publikumsbeschimpfung“, 1966 in Frankfurt am Main uraufgeführt, wurden sie als kecke Twens auf einen Schlag berühmt. Ein „verbales Rockkonzert“ nannte der Dramatiker diese damalige Insultation. Seither rocken Handke und Peymann in unregelmäßigen Abständen. Ihre jüngste Arbeit ist die zehnte gemeinsame Uraufführung. Allein fünf gab es am Burgtheater, wo Peymann von 1986 bis 1999 ein in mehrfachem Sinne aufregender Direktor war. Dazu trugen auch die gedankenvollen, epischen Stücke von Handke erheblich bei, die dessen Leib- und Leben-Regisseur für gewöhnlich sehr opulent in Szene setzte. Dieses späte Drama gehört zu den geheimnisvollsten bisher.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.02.2016)

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